Zum Inhalt springen

Die Wunder Jesu und die Wundererzählungen der Evangelien

Was ist ein Wunder?

Inhaltsverzeichnis

I. »Wunder« heute

In unserer Alltagssprache hat »Wunder« ein recht weites Bedeutungsfeld und zeigt sich keineswegs als klar umrissener Begriff. Man kann das Wort »Wunder« in einem übertragenen und weiten Sinn gebrauchen (»Welt der Wunder«). Dennoch treffen sich Antworten auf die Frage, was man unter einem Wunder verstehe, meist in einem bestimmten Punkt: 

Als Wunder wird gewöhnlich ein Geschehen bezeichnet, das sich durch seine Ungewöhnlichkeit und Außerordentlichkeit, auch durch seine Unerklärbarkeit auszeichnet. Ein Wunder liegt dann vor, wenn ein Vorgang naturwissenschaftlich nicht erklärbar ist; wenn er, wenigstens nach dem aktuellen Wissensstand, mit der naturgesetzlichen Ordnung nicht übereinstimmt.

 

II. »Wunder« in der Antike

Die Orientierung des Wunderverständnisses an der naturgesetzlichen Ordnung geht von einem Weltbild aus, das für die Antike gerade nicht vorausgesetzt werden kann. Die Geschehensabläufe auf der Erde wurden nicht auf eine stets gleich bleibende Naturgesetzlichkeit zurückgeführt. Vielmehr wurde überwiegend mit dem Wirken böser und guter Mächte gerechnet, die jederzeit eingreifen konnten in das Geschehen auf der Erde.

Diese Weltsicht hat bedeutsame Auswirkungen für das Verständnis von Wundern: Nicht das Maß der Außerordentlichkeit oder Unerklärbarkeit ist der entscheidende Punkt, sondern

die in einem Geschehen intensiver als üblich erfahrene Anwesenheit göttlicher Mächte.

Insofern solche Erfahrung gerade in außergewöhnlichen Ereignissen gemacht wurde, spielt selbstverständlich auch das Moment der Ungewöhnlichkeit eine Rolle; aber es ist nicht das hauptsächlich ausschlaggebende Kriterium für das Verständnis eines Geschehens als Wunder. Auch völlig natürliche Abläufe können als besonderes Eingreifen der Gottheit und somit als Wunder gedeutet werden: die Genesung von einer Krankheit, das Hereinbrechen eines Gewitters o.ä.

Dieses Verständnis ist prinzipiell auch für die biblische Wundertradition festzuhalten. Sie hat ihre Besonderheit im zugrunde liegenden Gottesbild, ausgedrückt im Glauben an JHWH als den einen Gott der »entschiedenen Zuwendung zu Welt und Mensch« (A. Deissler):

  • Jahwe wird anerkannt als Schöpfer und Erhalter der Welt: er hat die Welt allein durch sein machtvolles Wort geschaffen und erhält seine Schöpfung durch sein stetiges Wirken in der Welt (s. z.B. Ps 104). So kann die Schöpfungstat Gottes als Wunder besungen werden (Ps 136,4ff).
  • Israel bekennt Gottes Wundertaten in Bezug auf seine Führung in der Geschichte des Gottesvolkes wie auch des einzelnen Menschen (z.B. Ps 105; 107).

Wunder in biblischer Deutung sind also

»auffallende Ereignisse, die von glaubenden Menschen als Zeichen des Heilshandelns Gottes verstanden werden« (A. Weiser).

nach oben

Religionsgeschichtlicher Hintergrund der neutestamentlichen Wunderüberlieferung

Inhaltsverzeichnis

I. Asklepios-Heiligtümer

In der griechisch-römischen Welt gab es kultische Heilstätten. Sie boten Kranken, denen die Ärzte nicht helfen konnten, Aussicht auf Heilung. Der bekannteste dieser Heilgötter hieß Asklepios, der als Sohn des Apollo und der Koronis (Königstochter aus Thessalien) galt.

Er soll sehr erfolgreich als Arzt gewirkt haben und nach seinem Tod unter die Götter aufgenommen worden sein. An verschiedenen Heiligtümern wurde er als Heilgott verehrt, das bekannteste lag in Epidauros, an der Ostküste der peloponnesischen Halbinsel. Hier wurden Stelen gefunden, auf denen Heilungsberichte verzeichnet waren, die ins 4. Jh. v.Chr. zurückreichen. Pausanias (ein Reiseschriftsteller aus dem 2. Jh. n.Chr.) hatte noch sechs Stelen gesehen.

 

Heilungsberichte

Die siebzig erhaltenen Heilungsberichte bezeugen so genannte Inkubationsheilungen: Die Kranken übernachten im Tempel, in einem eigens dafür eingerichteten Raum. Im Traum, in dem ihnen Asklepios erscheint, erfahren sie Heilung von ihrer Krankheit. Neben Heilungen werden auch andere Nöte gelindert (z.B. die Anfrage nach dem Aufenthaltsort eines Sohnes oder ein Kinderwunsch), doch überwiegen die Heilungsberichte bei weitem. (Zugänglich sind diese Berichte als W1 bis W70 in R. Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin und der Religion, Berlin 1931.)

Diese Berichte sind aus ntl Sicht auch deshalb interessant, weil sie im Aufbau Ähnlichkeiten mit den Heilungswundergeschichten der synoptischen Evangelien aufweisen (s.u.). Ein typisches Beispiel:

»Pandaros, ein Thessalier, hatte Male auf seiner Stirn. Er schlief im Heiligtum und hatte einen Traum. Er träumte, dass der Gott einen Verband auf die Male legte und ihm sagte, er solle den Verband beim Verlassen des inneren Heiligtums abnehmen und ihn im Tempel als Weihgeschenk lassen. Als es Tag wurde, stand der Mann auf und nahm den Verband ab, und sein Gesicht war ohne Male. Er weihte im Tempel den Verband, und dieser hatte die Male von seiner Stirn.«

W6

 

Erfolge und Propaganda

Dass an diesen Kultstätten Heilungen geschahen, ist nicht zu bezweifeln. Andernfalls hätten sich diese Einrichtungen nicht über Jahrhunderte halten können. Der Heil­erfolg lässt sich wohl auf eine Verbindung religiöser, psychologischer und medizinischer Elemente zurückführen (ein Aufenthalt in Epidauros konnte auch den Charakter einer Kur mit Bädern und besonderem Ernährungsplan annehmen). In jedem Fall blieben aber genügend Unterschiede zur Schulmedizin, »dass die Menschen in der Antike hier Wunder konstatierten« (H.-J. Klauck).

Dieses positive historische Urteil schließt aber nicht aus, dass die Wunderberichte auf den Stelen für Propagandazwecke gesteigert wurden (s.a. hier). Bei diesen Berichten handelt es sich um offizielle Versionen, die von hölzernen Votivtafeln auf Stein übertragen wurden – eine Gelegenheit für solche Steigerungen (in W1 ist dies noch zu verfolgen, da der Votivtafeltext zitiert wird, s. hier).

 

II. Menschliche Wundertäter

Die Bewertung der Traditionen von charismatischen Wundertätern, die nicht an bestimmte Institutionen gebunden sind, ist strittig. Die ältere Forschung sah das Konzept von »göttlichen Menschen« als weit verbreitet an. Dies hatte Folgen für das Urteil über die synoptische Wundertradition: Sie sei in erster Linie Missionspropaganda – notwendig, weil man nur Chancen auf Gehör gehabt hätte, wenn Jesus dem (angeblichen) Ideal des Wunder wirkenden göttlichen Menschen entsprochen hätte.

In jüngerer Zeit ist man hier vorsichtiger geworden. Die Quellenlage erlaubt einen solchen Schluss nicht. »Fast alle einschlägigen Berichte über übermenschliche Wundertäter stammen aus dem 2. oder 3. Jh. n.Chr.« (Michael Wohlers).

 

»Göttliche Menschen« (theioi andres)

Dennoch muss man Überlieferungen von solchen Wundertätern nicht für ein spätes Produkt halten, das der ntl Zeit ganz fremd wäre. Immerhin bezeugt auch Josephus am Ende des 1. Jh. eine entsprechende Tradition (s.u.). Die Lebensbeschreibung des Apollonios von Tyana stammt zwar erst vom Beginn des 3. Jh., bezieht sich aber auf einen Zeitgenossen des Paulus. Sie ist nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern stützt sich auf ältere Quellen. Auch die Lebendigkeit von Überlieferungen zu Pythagoras (6. Jh. v.Chr.) und Empedokles (5. Jh. v.Chr.) spricht dafür, dass es die Vorstellung vom göttlichen Menschen im 1. Jh. gegeben hat und »als Bezugsrahmen der neutestamentlichen Wunderüberlieferung ernsthaft in Rechnung zu stellen ist« (B. Kollmann).

 

Apollonios von Tyana und Vespasian

Wie bereits angedeutet, ist die wichtigste Gestalt in diesem Zusammenhang Apollonios von Tyana. Er war Wanderphilosoph und Wundertäter. Aus ntl Sicht ist er nicht nur wegen der zeitlichen Nähe besonders interessant. In der Wunderüberlieferung zeigt sich eine gewisse Parallele zu den Gattungen der Exorzismen und der Totenerweckungen.

Auch von Herrschern sind Wundergeschichten überliefert. Tacitus und Sueton, römische Geschichtsschreiber, berichten von der Heilung eines Blinden und eines Lahmen, die Vespasian bewirkt haben soll.

 

III. Jüdische Wundertradition

Im AT nehmen Überlieferungen von menschlichen Wundertätern keinen großen Raum ein. Sie bleiben im Wesentlichen beschränkt auf Elija und Elischa. Mose gilt nicht als Wundertäter, er vollbringt die Wunder Gottes.

Im Frühjudentum sind allerdings Wundercharismatiker bezeugt durch Josephus und die rabbinische Tradition.

  • Choni der Kreiszieher (gest. um 65 v.Chr.), von Josephus nur kurz erwähnt, soll ein Regenwunder bewirkt haben. Wegen magischer Praktiken nicht unumstritten, kommt es im Laufe der Überlieferung zu »einer zunehmenden Integration Chonis in das rechtgläubige Judentum« (B. Kollmann).
  • Dasselbe gilt auch für Chanina ben Dosa, einem um die Mitte des 1. Jh. n.Chr. wirkenden Wundercharismatiker, der nur durch die rabbinische Literatur bezeugt ist (insofern ist die Quellenlage etwas unsicher). Ihm wurden nicht nur Heilungen, sondern auch Naturwunder zugeschrieben. Offensichtlich sollte er an die großen Wunderpropheten des AT angeglichen werden.
  • Für einen Wundertäter namens Eleazar haben wir in Josephus wieder eine zeitgenössische Quelle. Der literarische Rahmen ist die Präsentation der Weisheit Salomos. Der verfasste »Sprüche zur Heilung von Krankheiten und Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe man die Geister also bändigen und vertreiben kann, dass sie nie mehr zurückkehren« (Ant. VIII 2,5).
    Nach dieser Notiz verlässt Josephus den Rahmen der salomonischen Zeit: Diese Heilkunst sei auch in der Gegenwart anerkannt und er berichtet von einem Exorzismus des Eleazar, bei dem er selbst anwesend gewesen sei. Wie auch immer man die Einzelüberlieferung beurteilt, so bezeugt die (kursiv gesetzte) Bemerkung des Josephus ein besonderes Interesse an charismatischen Wunderheilern.

nach oben

Machttaten im Wirken Jesu

Inhaltsverzeichnis

I. Zur Historizität der Wunder Jesu

Die Wundertätigkeit Jesu begegnet uns in den Evangelien auf zwei unterschiedliche Arten, die einen je eigenen historischen Rückschluss erlauben.

 

Erzähltradition

Zum einen kann von einzelnen Taten in Form von Wundergeschichten erzählt werden. Tatsächlich stoßen wir in den Evangelien hauptsächlich auf diese Wunderüberlieferung in der Erzähltradition. Die historische Rückfrage kann untersuchen, ob es wahrscheinlich ist, dass eine einzelne Geschichte auf eine bestimmte Begebenheit im Wirken Jesu zurückgeht. In dieser Überlieferungsform sind bezeugt:

  • Krankenheilungen (z.B. Fieber, Aussatz, Lähmung, Blindheit)
  • Dämonenaustreibungen
  • Totenerweckungen
  • »Naturwunder« (z.B. Seewandel, Brotvermehrung, Sturmstillung)

 

Worttradition

Zum andern gibt es die Worttradition, also Jesusworte, in denen es inhaltlich um die Machttaten Jesu geht. Was sich von dieser Tradition als Wort des historischen Jesus sichern lässt, hat in einem prinzipiellen Sinn auch Anspruch auf historische Wirklichkeit. Wenn ein authentisches Jesus-Wort vorliegt, in dem Jesus seine Machttaten interpretiert, dann ist mit diesem Urteil mitgegeben, dass Jesus entsprechende Machttaten auch gewirkt hat. In dieser Überlieferungsform sind bezeugt:

  • Dämonenaustreibungen und Heilungen (Mk 3,22-30parr; Lk 13,32)
  • Machttaten ohne nähere Bestimmung (QLk 10,13-15)
  • Heilungen verschiedener Art und Totenerweckungen (QLk 7,22).

Die Historizität von Heilungen lässt sich, wie die folgende Darstellung zeigt, vor allem aus der Erzähltradition begründen, die Historizität von Exorzismen aus der Wortüberlieferung. Die »Naturwunder« sind nicht auf den historischen Jesus zurückzuführen.

 

Heilungen in der Erzähltradition

Einige Erzählungen lassen den Schluss zu, dass ihnen ein einmaliges historisches Ereignis zugrunde liegt, so z.B. die Geschichte von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-31parr). Unüblich ist die genaue Angabe des Ortes und der geheilten Person. Man kann sonst in der Überlieferung der Wundergeschichten keine Tendenz finden, nach der Jesus gerade in seinem Umfeld heilend gewirkt hätte. Die Erzählung verzichtet außerdem auf besondere christologische Akzente (etwa die staunende Reaktion der Zeugen des Geschehens).

Außerdem wird häufiger hinter den Geschichten von der Heilung des Mannes mit der erstarrten Hand (Mk 3,1-6parr) und von der Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52parr) ein historischer Kern vermutet.

 

Lk 7,22 par Mt 11,5?

Bei diesem Bezug auf die Erzähltradition ist vorausgesetzt, dass sich das Wort in Q7,22 nicht auf Jesus zurückführen lässt. Dafür sprechen folgende Überlegungen (nach Rudolf Pesch):

  • Die Exorzismen fehlen in dem Spruch – wie auch in den möglichen Bezugstexten bei Jesaja (Jes 35,5f; auch 26,19; 29,18). Es scheint also wesentlich darum zu gehen, die Machttaten Jesu aus der Schrift zu begründen; der Ansatzpunkt der Aussage ist nicht das Wirken Jesu – dann wären die Exorzismen kaum übergangen worden.
  • Totenerweckungen und Aussätzigenheilungen sind aus der Jes-Vorlage höchstens ableitbar aufgrund »gezielter Schriftforschung« (R. Pesch): To­tenerweckungen finden sich nicht in Jes 35, sondern in 26,19; Aussätzigen­heilungen haben, wenn überhaupt, nur einen sehr schwachem Anhaltspunkt (Jes 35,8).

    Da genau diese beiden Wunderarten von Elija und Elischa erzählt werden und diese Erzählungen auf die synoptische Wundertradition eingewirkt haben, wurde in Q7,22 wahrscheinlich eine bereits bestehende Aufzählung von Wundertaten nachträglich vervollständigt – vor dem Hinter­grund der urchristlichen Wundertradition, nicht aufgrund historischer Vorgaben des Wirkens Jesu.

 

Exorzismen in der Worttradition

Während Dämonenaustreibungsgeschichten schon so stark christologisch stilisiert sind, dass eine Rückführung auf konkrete Taten Jesu schwer fällt, kann für die Bezeugung des Themas »Exorzismen« in der Worttradition ein positives historisches Urteil gefällt werden. Für Mk 3,22-26parr lassen sich folgende Argumente anführen:

  • Die Frage der Schriftgelehrten passt gut ins Gesamtbild der Verkündigung Jesu: Auf wessen Seite steht Jesus? Wie setzt er seine Vollmacht ein? Ist sein Wirken von Gott gedeckt oder maßt er sich eine Autorität an, die ihm nicht zusteht?
  • Es findet sich keine christologische Auswertung, es geht allein um die Widerlegung eines Vorwurfs ohne Gewinn für die Christusverkündigung. Dies gilt auch für die erweiterte Fassung in Q (Lk 11,14-20par). Hier ist zwar eine positive Deutung der Exorzismen durch Jesus belegt; doch ist auch diese nicht an den Interessen der verkündenden Urkirche orientiert, sondern passt sich in die Basileia-Botschaft Jesu ein.
  • Es ist kaum denkbar, dass erst die urchristliche Überlieferung den Vorwurf des Dämonenbündnisses aufgebracht hätte, um ihn durch Jesus widerlegen zu lassen. Jesu Wirken mit Satan in Verbindung zu bringen – dies ist kaum aus spezifisch urchristlichen Interessen heraus zu erklären.

 

»Naturwunder«?

Das negative Ergebnis zu den »Naturwundern« ist nicht darin begründet, dass man diese Ereignisse nicht für möglich hielte. Es ist vielmehr die andere Überlieferungssituation zu berücksichtigen.

  • Diese Arten von Wundern sind nicht so gut in der Jesusüberlieferung verankert wie Heilungen und Exorzismen. Sie fehlen (bis auf einen Fall) in der Worttradition: Jesus äußert sich nicht zu dieser Art von Wundern.

    Die Ausnahme in Mk 8,14-21 ändert den Befund nicht. Ein Interesse an der Wunderthematik ist (in diesem wahrscheinlich redaktionell gestalteten Stück) kaum erkennbar. Von den Brotvermehrungen ist nur die Rede, um das Unverständnis der Jünger zu betonen. Das Wunder verweist darauf, dass die Jünger sich eigentlich keine Gedanken machen müssten, weil sie nur ein Brot mitgenommen haben. Sie haben Jesus im Boot, der aus fünf Broten die 5000 und aus sieben Broten die 4000 gesättigt hat. Schon in der Seewandel-Ge­schichte wurde am Ende festgestellt: »Sie waren nicht zur Einsicht gekommen über den Broten« (Mk 6,52). Dieser Faden wird hier wieder aufgenommen, anknüpfend an die Sorge der Jünger um das Brot. Am Ende steht betont die Frage, ob die Jünger noch nicht verstehen.
  • Außerdem lässt sich im Fall der »Naturwunder« auch ein christologisches Interesse der Träger der Tradition wahrscheinlich machen (das kann hier nicht im Einzelnen entfaltet werden).

 

Sammelberichte und Aussendungsrede

Das gewonnene Ergebnis kann man auch dadurch stützen, dass Aussendungsrede und Sammelberichte der Evangelien sich ebenfalls auf Heilungen und Exorzismen beziehen. Das Kriterium der mehrfachen Bezeugung trifft gerade für diese beiden »Wunderarten« zu: Mk, Q, Sondergut als unterschiedliche Quellenstränge; Jesusworte und Erzählungen als unterschiedliche Gattungen; Bezug auf Jesu Wirken und Beauftragung der Jünger als unterschiedliche Sachzusammenhänge. Gerade für die Heilungen und Exorzismen ist die Schnittmenge dieser verschiedenen Größen enorm.

 

II. Der Sinn der Machttaten Jesu

In der mt und lk Fassung des Streitgesprächs um den Sinn der Exorzismen finden wir nicht nur die Zurückweisung des Vorwurfs durch den Aufweis seiner Unsinnigkeit (Mt 12,25-26/Lk 11,17f; vgl. Mk 3,23-26), sondern auch die Interpretation, die Jesus den von ihm gewirkten Dämonenaustreibungen gegeben hat:

»Wenn ich durch den Finger (Geist) Gottes die Dämonen austreibe, ist schon zu euch gekommen die Herrschaft Gottes«

Lk 11,20/Mt 12,28

In den Machttaten Jesu zeigt sich das Heil der Gottesherrschaft, das Heil, das die von Jesus verkündete endzeitliche Zuwendung Gottes für die Menschen bedeutet. Die dämonischen Mächte (personifiziert gedacht: Beelzebul/Satan als deren Anführer), die den Menschen besetzen, müssen ihren »Ort« räumen und den Menschen freigeben.

 

Verbindung zur Botschaft Jesu

Mit dieser Bestimmung der Machttaten Jesu ist etwas Entscheidendes ausgesagt: Sie sind unlösbar auf Jesu Verkündigung bezogen. Sie illustrieren die Botschaft Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft und können abseits dieser Botschaft nicht verstanden werden. Der von Jesus zugesagte voraussetzungslose endgültige Heilswille Gottes wird konkret im Handeln Jesu: nicht nur in der Zuwendung zu den Sündern, sondern auch in den Machttaten Jesu, die zeigen, dass es um das Heil des ganzen Menschen, »auch mit seiner Leiblichkeit« geht (A. Weiser).

Eine zweite Folgerung: Die Wunder können den Glauben nicht ersetzen. Dies zeigt ja schon die Tatsache, dass Jesu Dämonenaustreibungen von Gegnern auf die Macht Satans zurückgeführt werden. Die Wunderhandlung an sich ist mehrdeutig; sie wird im Sinne Jesu nur recht verstanden, wenn sie auf seine Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft bezogen wird. Diese soll illustriert, aber nicht bewiesen werden. Die an ihn herangetragene Zeichenforderung weist Jesus zurück (Mk 8,11f). Vergleicht man Jesu Wunder mit sonstigen von antiken Wundertätern überlieferten Taten, so liegt ihre Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit nicht darin, dass Jesus besonders »spektakuläre« Wunder gewirkt hätte, sondern darin, wie er seine Machttaten verstanden hat: als Zeichen der angebrochenen Gottesherrschaft, die Glauben fordert.

 

Auf derselben Linie deutbar: Weheruf über die galiläischen Städte …

Das dargestellte Verständnis kann man auch an Q10,13-15 gewinnen. Hier werden die Machttaten bezogen auf geforderte Umkehr. Es wird erwartet, dass das Sehen der außergewöhnlichen Taten die Umkehr befördert. Dass dies in den genannten Städten nicht geschehen ist, wird ihnen zum Vorwurf.

Auch hier stehen die Taten nicht für sich, sondern werden in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Dieser Zusammenhang kann durchaus in der Botschaft Jesu vom Gottesreich gefunden werden, da dort das Thema der Umkehr eine wichtige Rolle spielt. Wenn die Machttaten der geforderten Umkehr zugeordnet werden, erhalten sie einen Platz im Zentrum des Wirkens Jesu – zumal man »Umkehr« hier auch in einem umfassendem Sinn verstehen kann: nicht nur auf den Aspekt des erneuerten Lebenswandels bezogen, sondern auf die Annahme der Botschaft Jesu im Ganzen. Es wird allerdings auch vertreten, dass der Weheruf über die galiläischen Städte die Erfahrungen der urchristlichen Mission in Israel spiegelt.

 

… und Q7,22

Wer das Logion QLk 7,22 auf Jesus zurückführt (zu Gegenargumenten s.o.), kann das zu Lk 11,20 entfaltete Verständnis in einem weiteren Jesuswort bestätigt finden. Da die Aussage mit Anspielungen auf Heilsverheißungen des Jes-Buches arbeitet, werden auch hier die Wunder Jesu zur angebrochenen Heilszeit in Beziehung gesetzt. Dass der Begriff »Gottesherrschaft« nicht fällt, wäre den atl Bezugstexten zu verdanken. Das sachlich Gemeinte wird mithilfe von Schriftaussagen umschrieben.

nach oben

Zur Überlieferung der synoptischen Wundergeschichten

Inhaltsverzeichnis

I. Typischer Aufbau

Synoptische Wundergeschichten zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie einem bestimmten Aufbauschema folgen. Die Grobstruktur kann in vier Punkten entfaltet werden:

  1. Einleitung: Situationsschilderung, Auftreten der beteiligten Personen.
  2. Exposition: Spannung, Charakterisierung der Not.
  3. Zentrum: Wunderhandlung.
  4. Schluss: Demonstration, Reaktion auf das Wunder.

 

Beispiel Heilungswundergeschichte

Dieses Schema lässt sich im Blick auf verschiedene Typen von Wundergeschichten noch etwas genauer fassen. Dies sei am Beispiel der Heilungswundergeschichte gezeigt (Mk 1,29-31):

  • Einleitung:
    »Und aus der Synagoge hinausgegangen, kamen sie in das Haus Simons und Andreas‘ mit Jakobus und Johannes. Die Schwiegermutter Simons aber lag fieberkrank danieder.«
    Auftritt Wundertäter (M1), Auftritt Hilfsbedürftige (M2), Auftritt Begleiter (M4), Begegnung/Herstellung von Kontakt (M10)
    [Die Kennung M1, M2 usw. bezieht sich auf das Motivrepertoire, das in dieser Tabelle angeführt ist.]
  • Exposition: »Und sofort sagen sie ihm ihretwegen.«
    Bitten (M15)/Information des Wundertäters (M17)
  • Zentrum: »Und er trat hinzu, ergriff ihre Hand und richtete sie auf.«
    Heilung (Berührung, M30)
    »Und es verließ sie das Fieber,«
    Feststellung der Heilung (M37)
  • Schluss: »und sie bediente sie.«
    Demonstration (M39)

Auch die Inschriften aus Epidauros bieten ein relativ festes Aufbauschema, das sich im Grundsatz mit den synoptischen Heilungsgeschichten vergleichen lässt:

  • Einleitung: »Euhippos trug eine Lanzenspitze sechs Jahre lang im Kiefer
    Angabe über die Person und die Art des Leidens (M2)
  • Exposition: —
  • Zentrum: »Als er im Heilraum schlief, nahm ihm der Gott die Lanzenspitze heraus und gab sie ihm in die Hände
    Heilung (während des Schlafs im Heiligtum, M31)
    »Als es Tag geworden war, ging er gesund heraus…«
    Feststellung der Heilung (M37)
  • Schluss: »… mit der Lanzenspitze in den Händen.«
    Demonstration der Heilung (M39) (kein durchgängiges Motiv in den Inschriften)

 

 II. Untergattungen

Die Gattung »Wundergeschichte« lässt sich G. Theissen folgend in verschiedene Untergattungen einteilen, je nach Situation der beteiligten Personen und der Charakteristik des Handelns Jesu:

  • Therapien (Heilungen): Jesus erscheint als Helfer leidender Menschen (z.B. Mk 1,29-31; 7,31-37; Lk 13,10-17). Totenerweckungen sind eine gesteigerte Form der Heilungen. Die Erzählmotive sind vergleichbar.
  • Exorzismen zeigen Jesus im Kampf gegen Dämonen (z.B. Mk 1,21-28; 5,1-20). Nicht Motive heilender Kraftübertragung bestimmen die Erzählung, sondern die Auseinandersetzung zwischen unreinem Geist und dem Exorzisten.
  • Epiphanien haben die Intention, die göttliche Macht Jesu in besonderer Weise zu zeigen: sie gipfeln in einem Offenbarungswort (z.B. Mk 6,45-52).
  • Rettungswundern geht es um die Überwindung feindlicher Mächte, seien es Naturmächte (z.B. Mk 4,35-41) oder solche, die von Menschen repräsentiert werden (Befreiungswunder allerdings nicht in den Evangelien).
  • Geschenkwunder stellen materielle Güter überraschend bereit, »verleihen überdimensionale und außergewöhnliche Gaben, verwandelte, vermehrte, gehäufte Lebensmittel« (G. Theissen). Die Wunderhandlung vollzieht sich unauffällig, demonstrative Züge fehlen (z.B. Mk 6,30-44).

 

Ein Alternativmodell

Eine funktional und pragmatisch orientierte Klassifizierung schlägt Kurt Erlemann vor (Erlemann, K., Wunder. Theorie – Auslegung – Didaktik, Tübingen 2021): Es gebe je vier Grundfunktionen, Grundeinsichten und Reaktionstypen in den ntl Wundergeschichten:

(1) Grundfunktion: Inszenierung göttlicher Fürsorge / Grundeinsicht: Wundertäter hilft / Reaktionstyp: (implizit) Staunen.

(2) Grundfunktion: Klärung der Identität / Grundeinsicht: Wundertäter ist göttlich / Reaktionstyp: Staunen, Erkenntnis.

(3) Grundfunktion: Konstitution von Gemeinschaft / Grundeinsicht: Wundertäter verändert Leben / Reaktionstyp: Glaube, Verkündigung, Nachfolge.

(4) Grundfunktion: Polarisierung im Rahmen endzeitlicher Scheidung / Grundeinsicht: Wundertäter »darf das« / Reaktionstyp: Konflikt, Ablehnung.

Daraus ergeben sich vier Arten von Wundertexten: (1) Fürsorge-, (2) Erkenntnis-, (3) Missions- und (4) Konflikt-Wundertexte. Es kann zu Überschneidungen kommen, gewöhnlich aber gibt es einen dominierenden Aspekt.

Beispiele: (1) Speisungswunder: Mk 6,30–44, (2) Stillung des Sturms: Mk 4,35–41, (3) Heilung der Schwiegermutter des Petrus: Mk 1,29–31 (wegen der Notiz über das Dienen), (4) Heilung eines Gelähmten: Mk 2,1–12 (wegen des Streits um die Vollmacht zur Sündenvergebung).

Aufs Ganze gesehen stellt sich die Frage, ob mit diesem System eine genauere Erfassung der Eigenheiten der Wundertexte gelingt. Am treffendsten scheint die Gattung »Erkenntnistexte« zu sein. Sie erfasst Erzählungen, die nach dem klassischen Modell Rettungs- und Erscheinungswundern zuzuordnen wären. Bei Mk 6,45-52 ließe sich die fehlende Erkenntnis (s. 6,52) dem Evangelisten und seinem Interesse am Jüngerunverständnis zuordnen. Schwieriger für das vorgestellte Modell ist die Tatsache, dass das Staunen im Fall (1) auch implizit sein kann: Wo ist es etwa in Mk 6,30-44 zu finden? Mk 1,29-31 wegen der Notiz über das Dienen den Missions-Wundertexten (3) zuzuschlagen, setzt eine zweifelhafte Deutung des Abschlussverses voraus. Ist die Grundfunktion »Konstitution von Gemeinschaft« wirklich so ausgeprägt, dass sie eine Untergruppe in der Bestimmung von Textsorten begründen kann? Zu den Konflikt-Wunder­texten (4) scheint es den Reaktionstyp »Konflikt, Ablehnung« in Reinform nur in Mk 3,1-6 zu geben (vielleicht noch Lk 14,2-6).

 

III. Zur Funktion von Wundergeschichten

Grundsätzlich kann man Wundergeschichten sozialgeschichtlich als »kollektive symbolische Handlungen« lesen, durch die sich die »kleinen Leute« angesichts ihrer Not Mut machen (G. Theissen). Dies verhindert aber nicht, dass im Rahmen urchristlicher Überlieferung das Erzählen von Wundergeschichten konkretere Funktionen hatte.

  • An erster Stelle sind die Bedürfnisse der Missionspredigt zu nennen. Darauf verweisen vor allem die Geschichten, die mit einem staunenden Ausruf der Zeugen enden (»Chorschluss«, M43). Sie laden die Hörer ein, in den Lobpreis einzustimmen und geben so ihren »Ort« zu erkennen.
  • Wundergeschichten könnten auch motivierende und legitimierende Funktion für urchristliche Wundercharismatiker gehabt haben. Heilendes Wirken blieb nicht auf Jesus beschränkt, die Urkirche führte die Sendung Jesu in dieser Hinsicht weiter. So können Wundergeschichten auch als Spiegel urchristlicher Praxis gelesen werden: Heilworte oder -handlungen, die sich bewährt haben, werden in die Jesustradition eingebracht und können »urchristlichen Wundertätern als Anleitung dienen« (M. Wohlers).

 

IV. Tendenzen der Überlieferung

Bei der Weitergabe von Wundergeschichten lassen sich Gesetzmäßigkeiten entdecken, deren Beachtung von Bedeutung sein kann für die Rekonstruktion einer möglichst ursprünglichen Form der jeweiligen Erzählung. Grundsätzlich kann man die Tendenz zum Wachstum erkennen. Sie äußert sich auf verschiedene Arten (J. Roloff; B. Kollmann):

  • Das wunderhafte Element wird gesteigert: die Zahl der Geheilten wird verdoppelt (Mt 8,28-34; 20,29-34); Jesus wird um die Auferweckung einer Toten gebeten statt, wie in der Vorlage, um die Heilung eines todkranken Mädchens (Mt 9,18); die Zahl der bei der Brotvermehrung Gesättigten bezieht sich in der mt Fassung nur noch auf die anwesenden Männer (Mt 14,21; 15,38).
  • Es entstehen Dubletten. Dies kann sich verbinden mit dem Moment der Steigerung. Es gibt zwei Brotvermehrungsgeschichten, Speisung der 4000 (Mk 8,1-10) und der 5000 (6,30-44). Mt bildet aus der Bartimäus-Erzählung eine weitere Blindenheilungsgeschichte (9,27-31). Lk könnte die Sabbatheilung in 14,1-6 in Analogie zu Mk 3,1-6 gebildet haben.
  • Wundergeschichten entstehen als erzählerische Entfaltung von Jesusworten. Die Geschichte vom reichen Fischfang (Lk 5,1-11) könnte aus dem Menschenfischerwort Mk 1,17 gesponnen sein. Die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12-14.20) wird bisweilen auf das Feigenbaum-Gleichnis in Lk 13,6-9 zurückgeführt. Solche Entfaltungen müssen nicht eine eigenständige Erzählung ergeben. Die Notiz, Jesus habe bei seiner Verhaftung das Ohr des Knechtes wieder geheilt (Lk 22,51), verdankt sich dem Jesusbild des dritten Evangelisten, für das ein starker Akzent auf das heilende Wirken charakteristisch ist (s.u.).
  • Erzählmotive aus der Umwelt werden auf Jesus übertragen. In diesem Zusammenhang wird verwiesen auf die Münze im Fischmaul in Mt 17,24-27 und auf die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain. Sie hat neben Anklängen an 1Kön 17 auch Parallelen in einer Erzählung über Apollonios von Tyana. Zum Weinwunder von Kana (Joh 2,1-12) wird diskutiert, ob hier Motive aus dem Dionysos-Mythos eingegangen sind.
  • Wundergeschichten könnten auch zu Sammlungen zusammengestellt worden sein. Vorgeschlagen wird etwa ein vormk Zyklus von Wundergeschichten (etwa von Mk 4,35-5,43). Zum JohEv wird diskutiert, ob seine Wundergeschichten auf eine eigene Quelle zurückgehen (die so genannte Semeia-Quelle; nach dem griechischen Wort für »Zeichen«).

nach oben

Schwerpunkte der Wunderdeutung in den synoptischen Evangelien

Inhaltsverzeichnis

I. Markus

Wunderüberlieferungen nehmen im MkEv einen breiten Raum ein. Der Evangelist scheint, quantitativ gesehen, an ihnen ein größeres Interesse zu haben als an der Wortverkündigung Jesu. Doch wird dieser erste Eindruck bei näherer Betrachtung etwas korrigiert.

 

Vollmacht Jesu zu Machttaten

Grundsätzlich ist festzuhalten: Jesus hat in der Sicht des Mk die Macht, Wunder zu wirken. Zwar liegt das Schwergewicht eindeutig auf Heilungen und Dämonenaustreibungen, wie vor allem die Sammelberichte zeigen (1,32-34; 3,7-12; 6,53-56: sie verstärken den Eindruck vom Wunderwirken Jesu). Doch erzählt Mk auch Rettungs- und Geschenkwunder oder Epiphanien, in denen sich Macht und Hoheit Jesu in besonderer Weise zeigen. Dass der Evangelist diese Geschichten auch für andere Akzente nutzt, nimmt diesen christologischen Aspekt nicht zurück. Von einer Wunderkritik im eigentlichen Sinn kann man nicht sprechen.

 

Jesus als Lehrer

Trotz (im Umfang) relativ schmaler Worttradition gibt Mk deutliche Hinweise, dass Jesu Wundertaten in Beziehung zu seiner Verkündigung zu sehen sind.

  • Dies zeigt sich in der Komposition des Evangeliums:
  1. Jesus tritt zunächst als Verkünder auf (1,14f), der Jünger beruft (1,16-20), ehe von einem Wunder erzählt wird.
  2. Nach einer ersten Reihe von Heilungen wird Jesus in Streitgesprächen durch seine Worte profiliert (2,1-3,6). Der erste Einschnitt ist mit dem Tötungsbeschluss in 3,6 erreicht – nach einer Sammlung von Streitgesprächen, deren erster (2,1-12) und letzter Abschnitt (3,1-6) Wort- und Tatverkündigung miteinander verbinden.
  3. Dem zweiten Zyklus von Wundergeschichten (4,35-5,43) ist mit der Szene in 3,20-35 und dem Gleichniskapitel (4,1-34) eine längere Sequenz vorgeschaltet, die Jesus als Wort-Verkünder zeigt.
  4. In dem Teil, der vorrangig der Belehrung der Jünger gewidmet ist (8,27-10,52), gewinnen eingestreute Wundergeschichten symbolischen Sinn. Dies kündigt sich schon im Abschluss des vorausgehenden Teils an: Die Blindenheilung in 8,22-26 weist hintergründig auf die Blindheit der Jünger hin, wie sie in 8,14-21 inszeniert wird. In der Verklärungsgeschichte (9,2-10) wird ausgewählten Jüngern die Herrlichkeit Jesu offenbart – auch hier geht es ums rechte Sehen der Person Jesu (s. 9,2-4.8). Die Heilung des blinden Bartimäus schließlich mündet in die Nachfolge des Sehenden auf dem Weg nach Jerusalem, also in die Passion.
  • In eingestreuten Notizen erinnert Mk bisweilen im Rahmen einzelner Wundergeschichten an Jesus als Lehrer: 1,22; 2,2; 6,34. Auch außerhalb solcher Erzählungen ist Mk das Bild des verkündenden Jesus so wichtig, dass er es durch entsprechende Notizen verstärkt (1,35-39; 2,13; 4,34; 6,2; 6,6b; 10,1).

 

Das »Messiasgeheimnis«

Zwar kann man, wie festgestellt, nicht von einer Wunderkritik sprechen, doch finden wir bei Mk durchaus eine Relativierung des Wunders, die sich nicht nur aus der Verbindung mit der Worttradition ergibt. Man darf Jesus nicht ausschließlich als Wundertäter sehen, sondern muss seinen ganzen Weg betrachten – bis zum Kreuz. Dies ist mit dem so genannten »Messiasgeheimnis« gemeint:

Jesus kann erst dann recht verstanden werden, wenn man auch sein Leiden in die Betrachtung einschließt.

Mk erreicht diese Ausrichtung durch verschiedene Strategien. Zwei davon finden sich im Zusammenhang von Wundergeschichten:

  • Schweigegebote an Geheilte oder an Dämonen: Jesus soll als Wundertäter nicht bekannt werden (z.B. Mk 1,34.44; 3,12; 7,36a). Dass diese Anweisung auch durchbrochen wird (1,45; 7,36b), zeigt allerdings die Jesus zukommende Macht, die zur Offenbarung drängt. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass Mk die Wundermacht Jesu nicht zurücknehmen will.
  • Das Unverständnis der Jünger: Trotz der Offenbarung der Macht und Würde Jesu, die manche Wundergeschichten inszenieren (Mk 4,35-41; 6,35-52; 8,1-10; 9,2-9), kommen die Jünger zu keinem angemessenen Verständnis der Person Jesu. Sie haben noch keinen Glauben (4,40), sind nicht verständig geworden angesichts von Seewandel und Brotvermehrung (6,52; 8,14-21).

    Daraus kann man kaum schließen, dass Mk jenen Wundergeschichten distanziert gegenüberstehe. Denn das Motiv des Jüngerunverständnisses ist ein Baustein des Messiasgeheimnisses, weist also auf die Notwendigkeit hin, den Weg Jesu bis zum Ende zu betrachten. Mk steht den »Naturwundern« nicht distanzierter gegenüber als der übrigen Wundertradition.

 

II. Matthäus

Die beiden Pole, die das Wunderverständnis des Mk bestimmen, finden wir auch grundsätzlich bei Mt wieder: Einerseits kommt Jesus fraglos die Macht zu Wundertaten zu; andererseits dürfen aber die Wunder nicht isoliert gesehen werden. Mt verstärkt beide Seiten. Er profiliert die Macht Jesu als Wundertäter, und er bindet die Wunderthematik in andere theologische Zusammenhänge ein.

 

Jesus als Wundertäter

Dass Mt die Darstellung Jesu als (vor allem heilender) Wundertäter wichtig ist,

  • zeigt schon die summarische Notiz in Mt 4,23: Jesus heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk. Die Wiederholung dieser Notiz in 9,35 schließt eine Klammer um Bergpredigt (Kap. 5-7) und Wunderzyklus (Kap. 8-9) und verstärkt so den programmatischen Charakter der Wundermacht Jesu.
  • In dieses Bild passt die Beobachtung, dass Mt bisweilen das Wunderhafte an den Machttaten Jesu steigern kann. So treibt Jesus in 8,28-34 Dämonen aus zwei Besessenen aus, heilt Jesus zwei Blinde (9,27-31; 20,29-34). In der Parallele zur Auferweckung der Tochter des Jairus wird Jesus schon zu Beginn um eine Totenerweckung gebeten (9,18). Das Moment der Berührung beim Vorgang der Heilung kann abgeschwächt werden (Mt 8,15 par Mk 1,31).
  • Das Interesse am Wundertäter Jesus wird des Weiteren dadurch bestätigt, dass dieses Moment in die Erfüllungschristologie eingebunden wird (s.u.), außerdem durch selbstständig gebildete Sammelberichte (14,14; 15,29-31; 19,1; 21,14). Besonders auffällig: Auch zum Aufenthalt in Jerusalem findet sich, einzig unter den Synoptikern, eine solche Notiz.

 

Matthäische Wunder-Christologie

Matthäus setzt besondere christologische Akzente zum Wunderwirken Jesu:

  • Das heilende Wunderwirken wird in 8,17 gedeutet als Erfüllung der Prophetie des (Deutero-)Jesaja. Die eigenwillige Interpretation von Jes 53,4 (nicht auf den Sühnetod bezogen) weist darauf hin, dass Mt hier nicht an vorgegebene Traditionen anknüpfen konnte. Im Rahmen des Erfüllungsdenkens spielt das Wunderwirken Jesu auch eine Rolle in der Antwort auf die Anfrage des Täufers (11,2-6). Mt hat seinen Wunderzyklus (Kap. 8-9) auf diese Antwort hin entworfen: alle in 11,5 genannten Taten sind zuvor in einzelnen Geschichten erzählt. So hat das Wunderthema auch strukturierende Funktion für das Evangelium. Jesus erfüllt auch durch sein heilendes Wirken die Verheißungen.
  • In der Redaktion markinischer Wundergeschichten zeigt Mt eine deutliche Konzentration auf die Person Jesu und ihr Wort:
  1. Nebenfiguren werden häufig ausgelassen. So verschwinden in Mt 8,14f die Jünger aus der Szene, obwohl das Geschehen im Haus des Petrus spielt. Dasselbe Phänomen ist in der Geschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau zu beobachten (9,20-22; auch die Menge spielt keine Rolle mehr). Die Träger des Gelähmten (Mk 2,3f) werden nicht genannt (Mt 9,2). Bei der Auferweckung eines Mädchens nimmt Jesus nicht, wie in der Parallele Mk 5,37, drei seiner Jünger mit. Während Mk in 5,1 wenigstens noch am Beginn berücksichtigt, dass Jesus in Begleitung seiner Jünger an Land geht, konzentriert sich der Blick in Mt 8,28 gleich auf Jesus allein. Nur von ihm heißt es, dass er an die Gegenseite gekommen sei.
  2. Die Zeichnung beteiligter Personen fällt im MtEv oft deutlich knapper aus als bei Mk. Von der Vorgeschichte der blutflüssigen Frau erfahren wir bei Mt kaum noch etwas, und nichts von ihren Gefühlen, als sie Jesus begegnet (9,20f). Der bei Mt namenlos bleibende Jairus erscheint nicht mehr als der Angefochtene (Mk 5,36), der Vater des besessenen Jungen wird nicht mehr in einen Dialog über den Glauben verwickelt (Mk 9,22-24; Mt 17,14-18).
    Dadurch werden die mt Geschichten meist farbloser, erzählerisch uninteressanter. Die Dramatik wird deutlich zurückgenommen. Ein extremes Beispiel dafür ist die Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,25-34 par Mt 9,20-22). Was Mt an erzählerischem Verlust in Kauf nimmt, erhält er als christologischen Gewinn zurück. Dazu gleich mehr.
  3. Das Wort Jesu tritt in den Vordergrund. Dies ergibt sich zum einen durch die Kürzungen des erzählerischen Teils: Wenn narrative Elemente zurücktreten, wird die direkte Rede stärker akzentuiert. Zum andern lässt sich aber auch grundsätzlich feststellen, dass Mt in den Wundergeschichten das Gespräch stärker betont. Sicher hat der Evangelist auch Geschichten übernommen, die stark bestimmt waren von dialogischen Elementen (Mk 7,24-30; 10,46-52; QLk 7,1-10). Doch lag ihm (nicht nur in Wundergeschichten) offensichtlich besonders an diesem Punkt. Die Bitte um Heilung wird meist in direkter Rede wiedergegeben, Jesus reagiert darauf entweder dadurch, dass er den Gesprächsfaden aufnimmt, oder durch ein Heilwort (oder einen Heilgestus). Die »Seegeschichten« (Mt 8,23-27; 14,22-33) sind durch Umstellung und Erweiterung ebenfalls stärker dialogisch akzentuiert (s.u.).
  • Das besondere Interesse des Mt am Titel »Sohn Davids« zeigt sich vor allem in der Wundertradition. Während Mk nur einen Beleg für diesen Titel bietet (Mk 10,47f), hat Mt ihn nicht nur durch die »Verdoppelung« der Blindenheilungsgeschichte stärker betont (Mt 9,27-31; 20,29-34); darüber hinaus hat er weitere Bezüge geschaffen, die Jesus gerade in seinem heilenden Wirken als Sohn Davids erscheinen lassen (12,23; 15,22; auch 21,15 nach der Notiz in 21,14).

    Im Hintergrund stehen nicht messianische Traditionen, denn in diesem Zusammenhang ist ein heilendes Wunderwirken nicht belegt. Bezugspunkt sind vielmehr Überlieferungen von Salomo, der ausdrücklich als »Sohn Davids« bezeichnet werden kann (TestSal 1,7; 20,1) und mit Heilungstraditionen in Verbindung gebracht wird (s. Weish 7,10f.20; 11Q 11,1; LibAnt 60,3; Ant. 8,45ff).

 

Glaubensgeschichten

Mt nutzt Wundergeschichten auch zu »Aktualisierungen« im Blick auf die Glaubenden seiner Zeit. Hier sind vor allem die Geschichten vom Seesturm und vom Seewandel zu nennen.

  • Die Erzählung von der Stillung des Sturms wird eingebettet in das Thema Nachfolge. Mt schiebt zwischen Befehl zur Überfahrt und Abfahrt Nachfolgeworte ein (8,19-22), die Jünger folgen Jesus ins Boot nach (8,23) – doch sie erweisen sich im Sturm als Kleingläubige (8,26).
  • Dasselbe gilt für Petrus, der sich beim Seewandel Jesu ebenfalls auf das Wasser begibt und aufgrund seines Kleinglaubens unterzugehen droht (14,31). Da die Jünger im MtEv transparent sind für die Glaubenden zur Zeit des Evangelisten, werden die Wundergeschichten so in erster Linie zu Glaubensgeschichten.
  • Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten bezeugt eine ekklesiologische Dimension der Wundergeschichten in anderer Weise. Das Staunen der Zeugen richtet sich darauf, dass Gott »solche Vollmacht den Menschen gegeben hat« (Mt 9,9; anders Mk 2,12). Hier ist wahrscheinlich auf die in der Gemeinde geschehende Sündenvergebung angespielt. Denn diese ist im Sondergut als Anliegen der mt Tradition bezeugt (Mt 18,15-18).

 

III. Lukas

Für Lukas gehören die Wunder Jesu ganz grundlegend zum Wirken Jesu. Er scheint nicht die Notwendigkeit gesehen zu haben, den Wundertaten Jesu als Gegengewicht die Wortverkündigung oder den Weg zum Kreuz gegenüber zu stellen. Selbstverständlich bietet er beides: Auch der lukanische Jesus tritt auf als Prediger; und er erleidet das Geschick des gewaltsamen Todes am Kreuz. Doch im LkEv ergibt sich nicht der Eindruck, dass dadurch eine Korrektur eines sonst einseitig am Wunderwirken ansetzenden Verständnisses der Person Jesu geleistet werden sollte.

Zwar übernimmt Lukas auch Bausteine des »Messiasgeheimnisses« aus dem MkEv wie Schweigebefehle an Dämonen (Lk 4,41) und Geheilte (5,14). Doch die Vorstellung als ganze hat er (ebenso wenig wie Mt) übernommen, so dass daraus keine Folgerungen für die Einschätzung der Wunder gezogen werden können.

 

Akzente des Wunderwirkens Jesu nach Lukas

Das Interesse des Lk an der Wunderüberlieferung zeigt sich vor allem durch drei Beobachtungen:

  • Er bietet über seine Quellen Mk und Q hinaus fünf Wundergeschichten. Der reiche Fischfang (Lk 5,1-11); die Auferweckung des Jünglings von Nain (7,11-17); die Heilung der gekrümmten Frau (13,10-17); die Heilung eines Wassersüchtigen (14,1-6); die Heilung der zehn Aussätzigen (17,11-17). Das Summarium zu Frauen in der Nachfolge Jesu (8,1-3) bringt ebenfalls das heilende Wirken Jesu ein.
  • Im Rückblick auf das Wirken Jesu kann Lukas allein auf die Heilungen Bezug neh­men (Apg 2,22; 10,38) oder die Wunder der Wortverkündigung vorordnen (Lk 24,19; Apg 1,1). Offensichtlich hat er keine Sorge, dass dadurch das heilende Wirken Jesu zu sehr in den Vordergrund gerückt würde. Diese Taten Jesu bezeugen, dass Gott mit Jesus war (Apg 10,38). Man muss ihnen nicht mit irgendeinem Vorbehalt begegnen.
  • Berufung und Nachfolge können mit dem Wunderwirken Jesu verbunden werden. So geschieht die Berufung der ersten Jünger im Zusammenhang mit dem reichen Fischfang (Lk 5,1-11). Dass Frauen sich im Gefolge Jesu befinden, wird mit dem Hinweis versehen, Jesus habe sie von bösen Geistern und Krankheiten befreit (8,2). Die Berufung des Levi (5,27f) wird in unmittelbarem Anschluss an die Gelähmtenheilung geschildert, die Notiz über die Lehre Jesu (Mk 2,13) ausgelassen.

 

Wunderkritik?

Gegen die vorgetragene Einschätzung vom besonderen Interesse an der Wunderüberlieferung könnte man zwei Einwände vorbringen:

  • Lk übernimmt aus dem MkEv eine summarische Notiz, in der vom Verkündigen Jesu die Rede ist; er streicht aber den bei Mk zu lesenden Verweis auf Dämonenaustreibungen (Mk 1,39; Lk 4,43).
  • Lk lässt vier Wundergeschichten aus dem MkEv aus: Seewandel (Mk 6,45-52); Heilung eines Taubstummen (Mk 7,31-37); Speisung der Viertausend (Mk 8,1-10); Heilung eines Blinden (Mk 8,22-26).

Diese Einwände lassen sich entkräften:

  • Im ersten Fall könnte sich die Auslassung dadurch erklären, dass unmittelbar zuvor ein Summarium die heilende Wirksamkeit Jesu präsentiert (Lk 4,40f) und in 4,42f die Verkündigungstätigkeit dargestellt werden sollte. Der Hinweis auf die Dämonenaustreibungen in Mk 1,39 hinkt auch etwas nach und passt nicht besonders gut in den Zusammenhang.
  • Die fehlenden Wundergeschichten sind alle Teil der »lukanischen Lücke«: Der ganze Zusammenhang Mk 6,45-8,26 fehlt im LkEv. Bisweilen wird dies mit einem defekten Mk-Exemplar des Lk erklärt – da nicht kontrollierbar, eine Verlegenheitsauskunft. Die Speisung der 4000 hat Lk vielleicht als Doppelung übergangen; die Heilung des Taubstummen und des Blinden könnte er deshalb nicht geboten haben, weil sie das hoheitliche Bild beeinträchtigen könnten (auch Matthäus bietet sie nicht). Die Auslassung des Seewandels bleibt allerdings schwierig.

 

Jesus – der endzeitliche Prophet

Die positive Bedeutung des Wunderwirkens Jesu für Lk lässt sich in ein christologisches Konzept integrieren. Jesus ist der eschatologische Prophet, der in seinen Taten die biblische Verheißung vom endzeitlichen Heil erfüllt (U. Busse). Erkennbar ist dies vor allem im programmatischen Abschnitt 4,16-30 (Antrittspredigt in Nazaret) sowie im Bezug auf die Wundergeschichtentradition, die an den atl Propheten Elija und Elischa orientiert ist.

  • In der »Antrittspredigt« bezieht sich Jesus auf Jes 61,1f (kombiniert mit Jes 58,6) und erklärt dieses Wort als »heute« erfüllt. In der Folge bringt er die prophetische Tradition ein: zunächst pauschal durch das Sprichwort vom in der Heimat nicht anerkannten Propheten (4,24), dann durch Rückgriff auf die Elija-Elischa-Tradition (4,25-27). Dieser Rückgriff geschieht hier zwar im Horizont der Öffnung zu den Heiden hin; zugleich wird aber auch an die Wunder jener Propheten erinnert: die Auferweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta und die Heilung des Syrers Naaman vom Aussatz.
    Da diese Traditionen auch auf die im LkEv greifbare Wundertradition eingewirkt haben (s. nächster Punkt), ist das programmatische Stück auch für diesen Bereich des lk Jesusbildes auszuwerten. Dass der Evangelist hier die Dimension des Wunderwirkens Jesu einbringen will, wird durch eine weitere Beobachtung gestützt: Auch das Jes-Zitat ist so gestaltet (nach der LXX), dass ein Ansatzpunkt für die Heilungen Jesu gegeben ist (»den Blinden das Augenlicht«).
  • Auf die Traditionen von Elija und Elischa als den profiliertesten menschlichen Wundertätern im AT nehmen besonders lk Wundergeschichten Bezug. Die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11-17) spielt deutlich auf 1Kön 17,17-24 an; nur Lk kennt eine zweite Erzählung von einer Aussätzigenheilung – neben den Totenerweckungen ein weiterer für den Elija-Elischa-Zyklus kennzeichnender Wundertypus (2Kön 5). Dass ausgerechnet der fremde Samariter dankbar zurückkehrt, erinnert an die Heilung des Syrers in 2Kön 5, der durch die Heilung zum JHWH-Verehrer wird (5,17f).

nach oben

Textbeispiele

Inhaltsverzeichnis

I. Heilungswundergeschichte / Normenwunder: Mk 2,1-12

Zur Analyse

Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten weist einige Auffälligkeiten und Spannungen auf:

  • Der Zuspruch der Sündenvergebung erfolgt etwas unmotiviert, da zuvor nichts von dem Sündersein des Gelähmten gesagt wurde und der Zusammenhang von Krankheit und Schuld nicht fraglos vorausgesetzt werden kann (er spielt auch sonst in den Wundergeschichten der synoptischen Evangelien keine Rolle).
  • Die Schriftgelehrten stoßen sich in Gedanken an etwas, das Jesus in dieser Form gar nicht gesagt hatte. Sie erkennen den Anspruch Jesu, selbst Sünden zu vergeben. Dieser Anspruch wird eigentlich erst in V. 10 erkennbar: der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden nachzulassen. Der Zuspruch in V. 5 ist passivisch formuliert und weist damit eher darauf hin, dass Jesus dem Gelähmten die Vergebung durch Gott zusagt. Die Formulierung des Vorwurfs passt also nicht ganz und nimmt schon den später erhobenen Anspruch vorweg.
  • Zwischen V. 10 und V. 11 zeigt sich eine literarische Naht, da die wörtliche Rede abbricht – genau an der Stelle, an der die Geschichte vom Streitgespräch zur Wunderhandlung zurückkehrt. Dass eine bestehende Geschichte wahrscheinlich erweitert wurde, wird durch eine weitere Beobachtung bestätigt:
  • Die Reaktion der Zeugen berücksichtigt den Widerspruch der Schriftgelehrten nicht mehr: »alle gerieten außer sich und lobten Gott« (V. 12). Dies ist ein üblicher Abschluss, der in der Formulierung nicht erkennen lässt, dass zuvor die Autorität Jesu in Frage stand. Das Problem besteht also in dem unkommentierten Bezug auf alle Anwesenden. Dass auch die Schriftgelehrten überzeugt wurden, wäre eigener Erwähnung wert gewesen, vor allem im Kontext der markinischen Streitgespräche. In diesem Rahmen wird ja ein sich stetig steigernder Konflikt erzählt, der auf den Todesbeschluss in Mk 3,6 zuläuft. Dass die Gegner Jesu durch die Wunderheilung überzeugt wurden, scheint deshalb ausgeschlossen.

Wahrscheinlich handelt es sich bei Mk 2,1–12 also um eine uneinheitliche Erzählung. Eine Wundergeschichte wurde nachträglich um ein Streitgespräch um die Vollmacht zur Sündenvergebung erweitert.

An welcher Stelle der Einschub beginnt, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Gehört der Zuspruch der Sündenvergebung zur ursprünglichen Wundergeschichte oder ist er erst mit dem Streit um die Vollmacht der Sündenvergebung eingefügt worden?

  • Im zweiten Fall würde sich die literarische Naht in V. 10 gut erklären lassen: Die Formulierung »sagt er dem Gelähmten« greift genau die Stelle auf, an der in V. 5 die wörtliche Rede eingeleitet wurde (»sagt er dem Gelähmten«). Wenn dann in V. 11 das Heilwort folgt (»ich sage dir: steh auf, nimm deine Matratze und geh in dein Haus«), könnte dies die ursprüngliche Fortsetzung der Redeeinleitung in V. 5 sein. Außerdem wäre die Schwierigkeit beseitigt, dass – untypisch für die synoptischen Heilungswundergeschichten – ein Zusammenhang von Krankheit und Sünde hergestellt und auch noch als selbstverständlich nahegelegt wäre.
  • Wenn der Zuspruch der Sündenvergebung von Anfang an in der Heilungswundergeschichte stand, ließe sich dagegen gut erklären, dass gerade diese Geschichte um das Thema der Vollmacht zur Sündenvergebung erweitert wurde. Außerdem wäre erklärlich, dass eine gewisse Spannung zwischen dem Zuspruch in V. 5 und dem Anstoß der Schriftgelehrten besteht.

    Die Zusage in V. 5 ist im Präsens und passivisch formuliert: »Deine Sünden werden vergeben.« Jesus beansprucht, wie festgestellt, nicht, selbst Sünden vergeben zu können, wohl aber, deuten und zusagen zu können, was sich gegenwärtig nach dem Willen Gottes vollzieht: die Annahme der Sünder durch Gott. So schlägt sich hier die Vergebungsbotschaft Jesu nieder: Jesus spricht Sündern die Vergebung Gottes zu. Die Spannung, dass die Schriftgelehrten den Anspruch Jesu, Sünden vergeben zu können, erkennen, wäre der sekundären Erweiterung zuzuschreiben: Diese musste angesichts der angezielten Aussage den Anstoß der Schriftgelehrten christologisch zugespitzt formulieren.

 

Zur Auslegung: Der Streit um die Sündenvergebung

Unabhängig davon, wie man sich im Blick auf den Beginn des Einschubs entscheidet, dreht sich der Streit mit den Schriftgelehrten um diese zuletzt genannte christologische Frage: Kommt es Jesus zu, Sünden zu vergeben oder ist dies ein Angriff auf die Majestät Gottes?

Nicht das Urteil der Schriftgelehrten, Jesus habe die Vollmacht zur Sündenvergebung beansprucht, wird durch die Erzählung als falsch zurückgewiesen, sondern die Folgerung, dass dadurch Gott gelästert werde. Gezeigt werden soll, dass Jesus die Vollmacht tatsächlich hat: Wenn Jesus den Gelähmten heilen kann, dann steht ihm auch zu, »Sünden nachzulassen auf der Erde« (V. 10f).

Im Hintergrund der Erweiterung dürfte die urchristliche Verkündigung stehen. Sie erhebt tatsächlich den Anspruch, im Namen Jesu Sündenvergebung zuzusprechen. Die Rede vom Menschensohn ist hier angesichts der kontextuellen Einbindung sicher titular zu verstehen. Der Begriff bezeichnet also nicht einen einzelnen Menschen (so könnte »Sohn eines Menschen« in hebräischer Sprachtradition verstanden werden), ist auch nicht verhüllende Redeweise für »ich«. Es geht um einen Hoheitstitel, der in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht werden kann: gegenwärtiges Wirken Jesu, Leiden und künftiges Erscheinen als Richter und Retter. Im MkEv begegnet er an dieser Stelle zum ersten Mal und richtet sich auf das gegenwärtige Wirken (so auch in 2,28).

 

Zur Auslegung: Die Heilungswundergeschichte

Löst man die Szene mit den Schriftgelehrten aus der Geschichte, bleibt eine typische Heilungswundergeschichte übrig:

  • Einleitung: V. 1-3 mit M1, M2, M3, M5 (Auftritt des Wundertäters, des Hilfsbedürftigen, einer Volksmenge und von Begleitern des Hilfsbedürftigen – zu M1, M2 etc. s. Tabelle).
  • Exposition: V. 4 mit M12, M15 und M16 (Erschwernis, Bitten [hier durch die Aktion], Vertrauensäußerung [nicht durch Hilfsbedürftigen oder Begleiter, aber aufgrund der Kommentierung in V. 5: »da Jesus ihren Glauben sah …«]).
  • Zentrum: V. 5a.[b].11-12a mit M32 und M36 (wunderwirkendes Wort, Konstatierung des Wunders [»und er stand sogleich auf«]).
  • Schluss: V. 12b.c mit M39 und M43 (Demonstration [»nahm seine Matratze und ging vor allen hinaus«] und Chorschluss).

Diese Geschichte hat ihre besondere Prägung durch die anschauliche Szene am Beginn mit dem Erschwernismotiv und der Überwindung des Hindernisses, die als Glaube im Sinn des Vertrauens in die Macht des Wundertäters zu verstehen ist. Sollte der Zuspruch der Sündenvergebung zur Geschichte gehört haben, so bleibt er ohne jeden Kommentar – eine gewisse Schwierigkeit für die Annahme, dass dieser Zuspruch ursprünglich in der Heilungswundergeschichte stand (s.o.). Die typische Aktion des Wundertäters ist die Zusage der Heilung, wie sie in V. 11 formuliert ist.

Der werbende Charakter der Erzählung wird im Chorschluss deutlich. Er zeigt, dass auch die ursprüngliche Fassung christologisch ausgerichtet ist. Der diskutierte Einschub macht also nicht aus einem schlichten Bericht eine Glaubensgeschichte; er verändert aber den Aspekt, unter dem Jesus wahrgenommen werden soll: Es geht nicht nur unbestimmt um die Größe des Wundertäters (»so etwas haben wir noch nie gesehen«), sondern darum, dass sich darin die (von Gott verliehene) Vollmacht zur Sündenvergebung erweist.

Die Geschichte in der überlieferten Gestalt kann man deshalb als Normenwunder einordnen: Das Wunder begründet die Norm, dass es Jesus zukommt, Sünden zu vergeben (und denen, die sich zu ihm bekennen, in seinem Namen Sündenvergebung zuzusprechen).

Für Markus ist diese Geschichte der Auftakt zu einer Reihe von Streitgesprächen mit Schriftgelehrten und Pharisäern, die auf den Todesbeschluss in 3,6 hinführt. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass er in alle, die in den staunenden Chorschluss ausbrechen, die Schriftgelehrten eingeschlossen sehen will. Dies stünde im Kontext ganz isoliert da, in dem es Markus darum geht, einen sich steigernden Konflikt auf den Todesbeschluss zulaufen zu lassen.

 

II. Totenerweckung: Lk 7,11-17

Zur Analyse

Die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain gehört zum Sondergut des LkEv. Wahrscheinlich hat er dieses Stück nicht einfach unverändert übernommen, sondern auch in seinem Sinne bearbeitet. Die Herauslösung dieses lukanischen Anteils an der Geschichte gestaltet sich allerdings sehr schwierig und ist kaum mit sicheren Ergebnissen durchzuführen.

Die Wundertat Jesu wird erzählt vor dem Hintergrund von 1Kön 17, der Erweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch Elija. Dafür sprechen folgende Beobachtungen am Text:

  • Nach 1 Kön 17,9f ging Elija hinein nach … (vgl. Lk 7,11),
  • das Stadttor ist als der Ort erwähnt (vgl. Lk 7,12),
  • an dem Elija auf eine Witwe trifft (vgl. Lk 7,12),
  • das Zusammentreffen ist eingeleitet mit »und siehe« (1Kön 17,10; Lk 7,12).
  • Im weiteren Verlauf der Geschichte wird Elija den einzigen Sohn dieser Frau vom Tod erwecken (vgl. Lk 7,12ff).
  • Die Formulierung »und er gab ihn seiner Mutter« (Lk 7,15) verdankt sich vor allem 1Kön 17,23. Sie ruft die Vorstellung wach, dass der Erweckte getragen wird. Dies passt zu 1Kön 17, aber nicht zu Lk 7,11-17 (der erweckte Sohn ist ein erwachsener Mann [»Jüngling«]).

Außerdem erinnert die Erzählung in einigen Zügen auch an eine hellenistische Wundergeschichte, die von der Erweckung einer toten Braut durch Apollonius von Tyana handelt (Philostrat, Vita Apollonii IV 45). Vergleichbar ist vor allem die Inszenierung der Geschichte:

  • Der Wundertäter ist unterwegs und trifft auf einen Leichenzug.
  • Der Leichenzug wird angehalten, sodass
  • das Wunder in aller Öffentlichkeit geschieht.
  • Auch der besonders beklagenswerte Todesfall verbindet beide Geschichten: Es geht um einen jungen Menschen, dessen Tod von einem anderen als besonders schmerzlich empfunden wird.

Die Geschichte gehört zur Gattung der Totenerweckungen. Gattungsmäßige Besonderheit ist das Fehlen einer Bitte um das Eingreifen des Wundertäters, Jesus handelt hier aus spontan empfundenem Mitleid mit der Mutter des Toten. Im Einzelnen lässt sich folgende Struktur der Geschichte aufzeigen:

  • Einleitung:
    Situationsangabe: der Wundertäter trifft auf den Leichenzug (V. 11-12b) – M1-M4 (M5 nachgeschoben in V. 12d, dient hier der Charakterisierung der Not; – zu M1, M2 etc s. Tabelle)
  • Exposition:
    Charakterisierung der Not (V. 12cd) – M11 (M5, siehe obiger Punkt)
    Verhalten des Wundertäters: Mitleid und Zuspruch, Initiative zur Wundertat (V .13-14b) – M25, M28
  • Zentrum:
    Wunderhandlung durch wunderwirkendes Wort (V. 14c) – M32
    Feststellung des Wunders (V. 15a) – M37 (»der Tote setzte sich auf«)
  • Schluss:
    Demonstration des Wunders (V. 15bc) – M39
    Reaktion der Zeugen: Akklamation (V. 16) – M43
    Ausbreitungsnotiz (V. 17) – M45

 

Zur Auslegung

Die Schilderung der Ausgangssituation betont zum einen die Not der Frau: Sie verliert mit ihrem einzigen Sohn auch ihren Ernährer und hat somit nicht nur den Schmerz über den menschlich harten Verlust zu tragen, sondern sieht auch wirtschaftlicher Verelendung entgegen. Zum andern wird, in innerem Zusammenhang mit der Ausgangssituation, als Motiv des Handelns Jesu das Mitleid betont.

Das Berühren des Sargs dient der Vorbereitung des Wunders (der Leichenzug kommt zum Stehen) und gehört nicht zur Wunderhandlung selbst. Das Wunder selbst geschieht allein durch das machtvolle Wort Jesu, das feierlich gestaltet ist. Die Konzentration auf das Wort hebt die Tat Jesu von den Totenerweckungen Elijas und Elischas ab, die durch die Anrufung Jahwes und das Sichausstrecken über dem toten Kind geschehen (1Kön 17,21f; 2Kön 4,33-35).

  • Die Überbietung der Propheten wird auch durch den größeren zeitlichen Abstand zwischen Sterben und Auferweckung dargestellt: Der Jüngling von Nain wird schon zur Beerdigung getragen, in den atl Erzählungen liegt der Tote noch im Haus.
  • Auch zu der von Apollonius von Tyana erzählten Totenerweckung ist der Unterschied in der Beschreibung der Wunderhandlung festzuhalten: Dort geschieht die Erweckung durch Berührung und geheime Worte. Jesus erweckt den Jüngling dagegen durch einen einzigen vernehmlichen Befehl. Auch wird, anders als im Fall des Apollonios, ein Scheintod ausgeschlossen (»Ein Toter wurde herausgetragen«, V. 12; »der Tote setzte sich auf«, V. 15).

Die Wirkung des Wortes Jesu wird festgestellt (»der Tote setzte sich auf«) und zusätzlich demonstriert (»er begann zu reden«). Jesus hat also allein durch sein machtvolles, vernehmbares Wort den Toten erweckt, nicht durch Anrufung Gottes, nicht durch Berührung, nicht durch geheime Formeln. Vor dem Hintergrund der atl Erzählungen von Elija und Elischa ist besonders das Fehlen der Anrufung Gottes zu betonen. Was die Propheten von Gott erbeten haben, tut Jesus aus eigener Vollmacht.

Näherhin zeigt sich: Jesus überbietet nicht nur die Propheten Elija und Elischa, sondern handelt in der Macht Gottes. Nach atl Vorstellung ist die Macht über Leben und Tod Gott vorbehalten (vgl. 2Kön 5,7; 1Sam 2,6; Dtn 32,39).

So erkennen denn auch die Zeugen des Geschehens, dass im Wirken Jesu Gott zu seinem Volk kommt (V. 16). Was Jesus vollbringt, weist auf die Anwesenheit Gottes, auf seine Macht. Da die Zeugen die Tat Jesu grundsätzlich zutreffend deuten, muss die Bezeichnung Jesu als eines »großen Propheten« nicht als ungenügende Charakterisierung verstanden werden, auch wenn in der Geschichte der Hoheitstitel »Herr« (Kyrios) gebraucht wird (V. 13). In einer besonderen Begebenheit zeigt sich, was der Lobgesang des Zacharias zum Erscheinen des Messias gesagt hat (Lk 1,68f).

 

Historische Beurteilung

Die dargestellten Erzählzüge sind literarisch-theologischer Gestaltung zuzuschreiben (können also nicht im Sinne von Beweisen für die Jesus zukommende Würde verstanden werden). Für die Annahme, die Geschichte von der Erweckung des Jünglings von Nain gehe zurück auf ein bestimmtes Ereignis im Wirken Jesu, lassen sich keine Gründe wahrscheinlich machen. Die Erzählung ist zwar keine direkte Nachbildung atl Geschichten, aber doch deutlich vor dem Hintergrund von 1Kön 17 mit überbietender Tendenz formuliert; sie könnte auch heidnisch-hellenistische Tradition kennen und überbieten wollen, wenn hier auch keine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit festgemacht werden kann. Auch die werbende Ausrichtung des Schlusses verweist auf das Christusbekenntnis der nachösterlichen Gemeinde als dem »Grund« der Erzählung.

 

III. Exorzismus: Mk 5,1-20

Zur Analyse

Auf den ersten Blick macht die Geschichte einen klar gegliederten Eindruck: Sie bietet eine Einleitung, in der die Situation geschildert und die Krankheit beschrieben wird (V .1-5); sie erzählt die Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Dämon (V. 6-13) und schildert das Verhalten der Zeugen des Geschehens (V. 14-17) sowie des Geheilten selbst (V. 18-20). Näheres Zusehen offenbart jedoch Wiederholungen und Doppelungen, auffallende Nachträge und Spannungen:

  • Doppelungen: z.B. im Begegnungsmotiv V. 2.6;
  • Nachträge: z.B. der Ausfahrbefehl in V. 8, die Notiz über den Besessenen, »der die Legion hatte«;
  • inhaltliche Spannung: die doppelte Begegnung (V. 6: der Besessene »lief von weitem herbei«, obwohl es zuvor hieß, er sei Jesus begegnet).

Die meisten dieser Auffälligkeiten lassen sich erklären, wenn man davon ausgeht, dass die Episode mit den Schweinen erst nachträglich in die Geschichte kam:

  • Die Macht der Dämonen, die sich an den 2000 Schweinen austobt, muss sich zuvor im Besessenen zeigen: Deshalb die ausführliche Beschreibung in V. 3-5, die zur doppelt beschriebenen Begegnung führt.
  • Der Ausfahrbefehl existierte schon in einer Fassung der Erzählung, die noch nichts wusste von der Einfahrt der Dämonen in die Schweine. Deshalb steht er jetzt an einer Stelle, die zu dem Missverständnis Anlass gibt, der Ausfahrbefehl Jesu sei zunächst folgenlos geblieben. Wäre die Geschichte von vornherein auf die Einfahrt der Dämonen in die Schweine angelegt gewesen, wäre auch mit einem entsprechend formulierten Befehl Jesu zu rechnen.
  • Die beiden nachgetragen wirkenden Notizen in V. 15 (»der die Legion hatte«) und V. 16 (»und über die Schweine«) hängen ebenfalls an der Schweine-Episode.
  • Gerasa liegt nicht in der Nähe eines Sees, in den sich die Schweine stürzen könnten, die Lokalisierung der Geschichte nimmt nicht Rücksicht auf die Schweine-Episode. Das heute nächstgelegene Gewässer, die König-Talal-Talsperre, existiert erst seit den 1970er Jahren. 

Das Motiv für die Erweiterung liegt wohl nicht nur in der Steigerung christologischer Motive. Es geht der Erzählung in der erweiterten Fassung in deutlich judenchristlicher Perspektive auch darum, die Macht Jesu über heidnische Unreinheit und die Dämonen des Heidenlandes darzustellen (Rudolf Pesch). Daneben dürfte auch ein romkritischer Akzent eingebracht sein (s.u.).

 

Zur Auslegung

Die Begleiter Jesu verschwinden sofort nach der Ankunft am Ufer von der Bühne, die Erzählung konzentriert sich auf die Begegnung zwischen Jesus und dem Besessenen. Ausführlich wird (aus oben genanntem Grund) der besonders schwere Fall von Besessenheit geschildert. Der Besessene hat selbstzerstörerische Tendenzen und ist nicht, wie Matthäus geändert hat, eine Gefahr für andere.

Mit der Rede von »Besessenheit« verbindet sich die Vorstellung, dass Menschen bösen Geistern gewissermaßen als Wohnung dienen, von ihnen ganz und gar in Besitz genommen werden. Erfahrungen von Ich-Verlust drücken sich auf diese Weise aus, der Besessene ist willenloses Werkzeug des Dämons. Nach dieser Vorstellung spricht Jesus als Exorzist mit dem Dämon, der besessene Mensch leiht dem bösen Geist nur die Stimme.

Der Dialog beginnt mit einem typischen Abgrenzungsmanöver des Dämons, der Gefahr wittert: Er spürt die Anwesenheit einer ihm feindlichen Macht. Die Frage »Was ist zwischen dir und mir?« soll den Exorzisten zurückdrängen: Der Dämon will seinen Einflussbereich freihalten und von der göttlichen Macht abgrenzen. Dass er Jesus beim Namen nennt, ist als versuchter Namenszauber zu verstehen. Den Namen zu kennen bedeutet, Macht über den Namensträger zu haben (aus Rumpelstilzchen ein bekanntes Märchenmotiv).

Allerdings misslingt der Versuch im Fall des Dämons. Jesus dreht den Spieß um – eine Besonderheit dieser Erzählung – und erfragt den Namen des Dämons. Der muss ihn sofort herausrücken und demonstriert dadurch seine Unterlegenheit.

  • Sein sprichwörtlich gewordener Name »Legion« eröffnet zunächst den Blick auf das ungeheure Ausmaß der dämonischen Macht, die in dem Besessenen wirksam ist. Jesus hat es mit einem ganzen Dämonenheer zu tun.
  • Liest man das Markus-Evangelium als eine Art »Anti-Biographie« zum Aufstieg der flavischen Kaiser, könnte außerdem eine romkritische Note mitschwingen: Die militärische Macht Roms, in Legionen organisiert, wird als dämonisch gekennzeichnet. Dass eine der Legionen, mit der Vespasian gegen Jerusalem zog, einen Eber als Wappentier auf den Standarten abbildete, könnte die Anspielung verstärken. Die unreinen Geister drängt es ja in die 2000-köpfige Schweineherde (Martin Ebner).

Dass die Dämonen darum bitten, in die Schweine einfahren zu dürfen, ist ein weiterer Zug, der ihre Unterlegenheit demonstriert: Sie haben sich der Macht Jesu unterworfen. Die Reaktion der Schweineherde, die zum Abhang stürmt, illustriert noch einmal die außerordentliche Gewalt des Dämonenheers. Dieses vernichtet sich allerdings selbst. Dass sich die Schweine in den See stürzen, ist wohl vor dem Hintergrund der Vorstellung vom Wasser als Chaosmacht zu verstehen. Mit den Schweinen kommen auch die Dämonen um. Das Auftreten Jesu im Gebiet der Gerasener befreit das Land von seinen bösen Geistern.

Die Einwohner scheinen darüber allerdings nur mäßig erfreut zu sein: Sie bitten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzuziehen (V. 17).

  • Das ist vordergründig insofern verständlich, als sich das Land auf Dauer keinen Wundertäter leisten kann, dessen Auftreten eine riesige Schweineherde vernichtet.
  • Hintergründig hat die Bitte noch einen anderen Sinn: Die Menschen erkennen, dass sie in Jesus der Macht Gottes begegnen. Dies begründet wegen des eigenen Ungenügens die Furcht, in der Nähe dieser Macht nicht bestehen zu können (s.a. die Reaktion des Petrus auf den reichen Fischfang in Lk 5,8).

Die Geschichte vom Besessenen von Gerasa stellt im Rahmen der Evangelien insofern eine Besonderheit dar, als Jesus heidnisches Gebiet betritt, vorbehaltlos an einem Heiden heilend wirkt (anders in Mk 7,24-30par) und schließlich auch die Verkündigung des Geschehens in diesem Gebiet initiiert (5,19f). Sonst bieten die Evangelien keinen Anhaltspunkt dafür, dass Jesus seine Botschaft vom Reich Gottes in Wort und Tat über das Gottesvolk Israel hinausgetragen hätte.

Unsere Erzählung berichtet also nicht von einem bestimmten Vorfall, der sich auf die angegebene Weise im Wirken Jesu zugetragen hätte; sie hat wahrscheinlich keinen konkreten historischen Kern (auch wenn grundsätzlich das Austreiben von Dämonen zum Wirken Jesu gehört hat):

  • Im Grundbestand zielt sie darauf, Jesus als den darzustellen, der die Mächte des Bösen überwindet.
  • Die Erweiterung um die Schweine-Episode richtet diese Macht vor allem auf das heidnische Land und seine Bewohner aus, die von den Dämonen befreit werden (mit Seitenhieb auf die Heilsansprüche der römischen Kaiser).
  • Der missionarisch werbende Schluss in 5,18-20 dürfte vor allem im Blick haben, die Heidenmission der Urkirche mit Jesus zu verbinden. Was nach Ostern im Gefolge grundsätzlicher Debatten akzeptiert wurde, nämlich das Evangelium auch den Heiden zu verkünden, wird legitimiert durch eine Geschichte vom Wirken Jesu unter den Heiden, das dort bekannt und verbreitet wird.

nach oben

Motivgerüst (Motivrepertoire) der Wundergeschichten

(nach R. Pesch / R. Kratz, So liest man synoptisch, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1976 (Beilage))

Teil Einzelmotive Funktion
EINLEITUNG   SITUATIONSSCHILDERUNG
  1. Auftritt des Wundertäters  
  2. Auftritt des (der) Hilfsbedürftigen  
  3. Auftritt einer Volksmenge  
  4. Auftritt von Begleitern des Wundertäters  
  5. Auftritt von Begleitern des Hilfsbedürftigen  
  6. Auftritt von Stellvertretern des Hilfsbedürftigen  
  7. Auftritt von Gesandtschaften  
  8 Auftritt von Gegnern/Dämonen  
  9. Motivation des Auftretens von Gegnern  
  10. Begegnung/Herstellung von Kontakt  
     
EXPOSITION (I)   SPANNUNGSAUFBAU
  11. Charakterisierung der Not  
  ANNÄHERUNG AN DEN WUNDERTÄTER  
  12. Erschwernis  
  13. Niederfallen, Kniefall  
  14. Hilferufe  
  15. Bitten  
  16. Vertrauensäußerung  
  17. Information des Wundertäters  
  ZWISCHEN- UND GEGENSPIELER  
  18. Missverständnis  
  19. Skepsis  
  20. Spott  
  21. Kritik  
  22. Gegenwehr des Dämons  
     
EXPOSITION (II)   SPANNUNGSAUFBAU
  VERHALTEN DES WUNDERTÄTERS  
  23. Pneumatische Erregung, Klage  
  24. Mitleid  
  25. Zuspruch  
  26. Argumentation  
  27. Sich-Entziehen  
  28. Anweisungen des Wundertäters (Initiative)  
     
ZENTRUM   LÖSUNG
  29. Szenische Vorbereitung  
  WUNDERHANDLUNG  
  30. Berührung (Heilgeste)  
  31. Heilende Mittel (Manipulation)  
  32. Wunderwirkendes Wort (Heilwort)  
  33. Unauffälliger Vollzug des Wunders  
  34. Apopompe (Ausfahrbefehl an Dämonen)  
  35. Gebet  
  36. Exploration (Erkundigung nach Heilerfolg)  
  37. Konstatierung des Wunders  
  38. Ausfahrt des Dämons  
     
SCHLUSS   BEGLAUBIGUNG, WERBUNG
  39. Demonstration  
  40. Entlassung  
  41. Geheimhaltungsgebot  
  42. Admiration  
  43. »Chorschluss«  
  44. Ablehnende Reaktion  
  45. Ausbreitung des Rufes  

nach oben