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Jes 6,1‒13

Die Sendungserzählung des Propheten Jesaja

  1. Zum historischen Kontext der Textpassage
  2. Struktur und Aufbau
  3. Vision des im Himmel thronenden Herrn und seiner Begleiter (V. 1‒4)
  4. Exkurs: Zebaoth
  5. Schreckensruf Jesajas und individuelle Wende durch himmlischen Eingriff (V. 5‒7)
  6. Göttliche Beauftragung Jesajas: Verstockung des Volkes (V. 8‒13)
  7. Fazit
  8. Quellen

Obwohl der Text als „Berufungserzählung“ des Propheten Jesaja bekannt ist und in EÜ auch diesen Titel trägt, ist es besser, von einer Sendungserzählung zu sprechen, da die Erzählung in mehreren Punkten von einer klassischen Berufungserzählung abweicht und stärker eine bestimmte Beauftragung fokussiert als die grundlegende Berufung.[1] Sie vollzieht sich in einer Vision, die in eine Audition übergeht, wobei mehrfach mythische Motive anklingen. Jesaja wird Mitglied der himmlischen Versammlung und aus diesem Gremium heraus als Botschafter mit einem ungewöhnlichen und bestürzenden Auftrag entsandt. Sprachlich kennzeichnen den Text der Ich-Stil des Propheten, seine grundsätzliche Einheitlichkeit und der narrative Modus.


[1] Vgl. zur Debatte um Jes 6 als Berufungs- oder Sendungserzählung die Zusammenfassung unter „2.3 Gattungen“ im WiBiLex-Artikel „Jesaja-Denkschrift“: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/22416/

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Zum historischen Kontext der Textpassage

Die Sendungserzählung in Jes 6 gehört zu einem größeren Textkomplex, der als „Denkschrift Jesajas“ bekannt ist und die Kapitel Jes 6,1-9,6 umfasst. Den historischen Kontext für die Denkschrift Jesajas bildet der syrisch-ephraimitische Krieg (734-732 v. Chr.),[1] vor dessen Hintergrund die Reflexion über das Scheitern der eigenen Verkündigung zu verstehen ist.


[1] Link zum entsprechenden Abschnitt der Geschichte Israels.

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Struktur und Aufbau

  1. 1‒4: Vision: Erscheinung des thronenden Herrn und seiner Begleiter
  2. 5‒7: Schreckensruf Jesajas und individuelle Wende durch himmlischen Eingriff
  3. 8‒13: Dialog Gott ‒ Jesaja
    1. 8: Ansprache und Bereitschaft Jesajas
    2. 9f.: Göttliche Beauftragung Jesajas: Verstockung des Volkes
    3. 11‒13: Zeitliche Begrenzung des Auftrags

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Vision des im Himmel thronenden Herrn und seiner Begleiter (V. 1‒4)

Zu Beginn wird das visionäre Erlebnis, das im Folgenden geschildert wird, datiert und somit als ein Geschehen, das eigentlich in der himmlisch-geistigen Sphäre stattfindet, in Raum und Zeit verankert. Der Hinweis auf das Todesjahr des Königs Usija kann historisch nicht konkret aufgelöst werden, doch kann diese Datierung auch metonymisch für die Einleitung einer neuen Epoche stehen. Die Verbform „da sah ich“ (Jes 6,1b) weist die anschließende Schilderung als Vision aus und kann in Abgrenzung der beiden anderen Verbformen in der 1. Person Singular („da sagte ich“ Jes 6,5; „da hörte ich“ Jes 6,8) als Gliederungskriterium angeführt werden. Die himmlische Wirklichkeit wird der Prophetenfigur Jesaja sichtbar zuteil und er sieht den thronenden Herrn. Dabei wird Gott nur indirekt beschrieben, indem sein Thron und sein Gewand genannt werden, womit seine Größe und Erhabenheit zum Ausdruck gebracht werden. Durch die Erwähnung des Tempels wird die himmlische Vision mit der irdischen Lebenswelt verschränkt, sodass „das, was im ‚Himmel‘ geschieht, zugleich auf der Erde [spielt]“ (Höffken, 74). Als nächstes beschreibt die Prophetenfigur Jesaja die Serafim, die den thronenden Herrn umgeben (Jes 6,2). Serafim (hebr. „die Brennenden“) bilden als himmlische Wesen den Hofstaat Gottes. Sie werden vorgestellt als geflügelte Schlangen mit menschlichen Zügen und tragen eine Schutzfunktion. Jesaja beschreibt Flügel und Haltung der himmlischen Wesen. Die Anzahl der Flügel kann als dreifache Steigerung der üblichen zwei Flügel betrachtet werden und in zahlsymbolischem Zusammenhang mit dem folgenden Dreimalheilig (Jes 6,3) gedeutet werden. Mit ihrer Haltung bedecken die Serafim ihr Gesicht und ihre Füße, sie können nicht sehen oder stehen. Damit unterscheiden sie sich einerseits streng von Gott, dessen erhabene Präsenz den himmlischen Raum erfüllt, und andererseits vom Propheten Jesaja, der im Gegensatz zu den Serafim durch seine Fähigkeit zu sehen in eine hervorgehobene Lage gerückt wird. Aus dem Munde der Serafim erklingt ein Jubelruf zur Ehre des „Herrn der Heerscharen“, das sog. Tris-hagion (Dreimalheilig) (Jes 6,3). Die Dreizahl hat möglicherweise ihren Ursprung im Jerusalemer Tempelkult, auch wenn diese Formulierung in den Psalmen nicht begegnet. Der Begriff der Heiligkeit wird in diesem Kontext primär zur Unterscheidung aller profanen Dinge herangezogen, d.h. Gott wird vom irdischen Bereich deutlich abgehoben. Mit dem zweiten Teil des Rufs verkünden die Serafim hingegen, dass die Lebewesen der Welt als herrschaftstheologischer Ausdruck und als Manifestation der göttlichen Herrlichkeit gelten. Der Lobpreis der Serafim versinnbildlicht somit zugleich Gottes Transzendenz und Immanenz: JHWH ist einerseits von allem unendlich verschieden („heilig“), andererseits steht er mit der Welt der Lebewesen in einer Beziehung; zugleich werden Abgrenzung und Einbezug Gottes von bzw. in die irdische Wirklichkeit ausgesagt. Liturgiegeschichtlich findet sich das Dreimalheilig im Sanctus der christlichen Liturgie wieder. Im nächsten Vers werden sodann die Folgen des Trishagion-Rufs geschildert (Jes 6,4): Das Beben der Erde sowie das Auftreten von Rauch sind Zeichen einer Theophanie (Gottes-Erscheinung; vgl. Ex 19,18: Gott erscheint Mose auf dem Berg Sinai mit vergleichbaren Begleitphänomenen). Mit dem Auftreten des Rauchs entzieht sich dem Propheten die Vision und es folgen Dialog und Audition.

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Exkurs: Zebaoth

Die Gottesbezeichnung Zebaoth kommt immer in Verbindung mit dem Gottesnamen JHWH vor, auf den sie sich bezieht. Sie ist fester Titel und Beiname JHWHs. In der Einheitsübersetzung wird der Begriff entweder als Eigenname transkribiert oder mit „(Herr der) Heerscharen“ übersetzt. Die Gottesbezeichnung JHWH Zebaoth ist die häufigste im Alten Testament. Während sie im Pentateuch fehlt, ist sie bei den Propheten besonders oft belegt, vor allem bei Jeremia und Protojesaja.

Sprachlich entspricht der Begriff Zebaoth dem hebräischen Plural des Wortes zābāh („größere Schar/Heer“) und kann daher als „Heerscharen“ übersetzt werden. Allerdings birgt die Deutung dieser Gottesbezeichnung sprachlich einige Schwierigkeiten, weshalb verschiedene Interpretationen und mögliche Etymologien diskutiert werden:

  1. Die naheliegendste Deutung der Heerscharen liegt in der eines menschlichen Heers. Eine solche Deutung legt 1Sam 17,45 nahe, wo David zu Goliat spricht: „Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des HERRN der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast.“ In einer Apposition zur Gottesbezeichnung werden die Heerscharen mit Schlachtreihen des israelitischen Heeres identifiziert. Grammatikalisch betrachtet ist diese Deutung allerdings fragwürdig, da der Plural eines Heers eine natürlich-maskuline Form implizieren würde und nicht die grammatisch-feminine Endung ōt. Zudem kann der Begriff, der für die „Schlachtreihen“ gebraucht wird, aufgrund des stark differierenden Klangs nicht als Etymologie für den Begriff Zebaoth dienen.
  2. Neben menschlichen Heeren ist die Anwendung des Begriffs Zebaoth auch auf Gestirne geläufig. In diesem Sinne wird der Ausdruck mit „himmlische Heerscharen“ übersetzt. Im Hintergrund steht hierbei die Theologie von JHWHs alleiniger Schöpfermacht, die sich auch über alle himmlischen Erscheinungen erstreckt. Sie kann von der Auseinandersetzung mit babylonischen Gestirnsgottheiten angeregt worden sein, mit denen Israel im Exil konfrontiert war, was die häufige Verwendung dieser Sinnrichtung bei Deuterojesaja erklären kann. Dieser Aspekt stellt zwar eine legitime Deutung des Begriffs Zebaoth dar, klärt jedoch ebenfalls nicht den Ursprung des Wortes.
  3. Ein Blick auf die Grammatik der verwandten Nachbarsprachen könnte Aufschluss über das Paradox des femininen Plurals geben: In der ugaritischen Grammatik ist der feminine Plural als Abstraktplural bekannt. Verstärkt und abstrahiert man die Bedeutung des Grundworts zābāh („größere Schar/Heer“), könnten durch den Abstraktplural die Mächtigkeit, Stärke und Kraft Gottes ausgedrückt sein. Die Übersetzung von Zebaoth in der Variante der Septuaginta, die den Ausdruck mit tōn dynameōn („(Herr) der Mächte“) oder pantokratōr („Allherrscher“)übersetzt, weist in diese Richtung.

Görg und Kreuzer verweisen als letzte Möglichkeit auf das ägyptische Wort für „Thron“, das eine zulässige etymologische Herleitung des Begriffs Zebaoth leisten kann. Das Attribut des „Thronenden“ findet zur Beschreibung von Göttern und Herrschern Gebrauch und drückt Macht und Majestät aus. Das ursprünglich ägyptische Wort könnte mit der Gottheit JHWH in Verbindung gebracht worden sein, um genau diese Aspekte im Gottesbild zu betonen. Durch die hebräische Aussprache des ägyptischen Begriffs dschebat („Thron“) bzw. dschebati („Thronender“) kann daraufhin die lautliche Assoziation mit dem hebräischen Ausdruck Zebaoth entstanden sein, die zur Diskussion der oben genannten Möglichkeiten führte. Für diese Erklärung spricht, dass der Ausdruck Zebaoth zum ersten Mal in 1Sam 1,3.11 belegt ist, wo es um das Heiligtum in Schilo geht. Dieses weist alte ägyptische Traditionen auf, wodurch eine Identifizierung des ägyptischen Machtattributs mit Israels Gottheit JHWH plausibel scheint.

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Schreckensruf Jesajas und individuelle Wende durch himmlischen Eingriff (V. 5‒7)

Der zweite Abschnitt beginnt mit einem Schreckensruf („Weh mir!“), der anschließend anhand von drei begründenden Sätzen (EÜ übersetzt dreimal „denn …“) erläutert wird. Höffken bevorzugt für die erste Begründung die Formulierung „denn ich bin zum Schweigen gebracht“ (V. 5), da das Schweigen-Müssen in Zusammenhang mit der anschließenden Rede von den „unreinen Lippen“ stehe. Hinter dieser zweiten Begründung für den Weheruf des Propheten stehen priesterliche Vorstellungen von Reinheit in Bezug auf den Tempelkult. Das „Irdische als Unreines [kann] […] mit dem Himmlischen als dem Heiligen nicht kommunizieren […] und [versteht] sich daher auch als zum Schweigen gebracht“ (Höffken, 76). Zugleich kann diese Aussage auch als provokativer Angriff auf den Tempelkult betrachtet werden, indem dem Volk aufgrund seiner Unreinheit die Fähigkeit zur Anbetung abgesprochen wird. Als dritte Begründung wird schließlich die Theophanie angeführt (Höffken: „denn den König […] haben meine Augen gesehen“ V. 5). Damit wird ein Motiv aufgenommen, das auch an anderen Stellen in Zusammenhang mit Gotteserscheinungen belegt ist, nämlich dass, wer Gott schaut, nicht am Leben bleiben kann (vgl. Ex 33,20). Dieser Gedanke greift die vorausgegangene Vision auf und „markiert nun den eigentlichen Grund des Schreckensrufes in der Schau Gottes“ (Höffken, 76).

Nach dem Weheruf des Propheten, der sich selbst und sein Volk als Menschen mit „unreinen Lippen“ (dis-)qualifiziert, folgt das rettende Eingreifen eines Serafims. Auffällig ist, dass die „Reinigung“ einseitig von der himmlischen Sphäre aus erfolgt und dass nur Jesaja (nicht das ganze Volk) diese reinigende Zuwendung erfährt. Mit den Begriffen „Kohle“, „Zange“ und „Altar“ werden Gegenstände genannt, die als Kultinventar bekannt sind und in diesem Kontext eine priesterliche Sühnevorstellung wachrufen. Die „glühende Kohle“ erzeugt dabei das Bild eines Ausgebrannt-Werdens der Sünde und die Rede von „Lippen“ stellt einen Zusammenhang von Wort und Tat her. Mit dem „Berühren“ eben dieser ist jedoch keine Bevollmächtigung im Sinne eines Ritterschlags verbunden, sondern die Beseitigung der Sünde als jener Unreinheit, die den Menschen Jesaja am Kontakt mit dem Himmlischen hindert. Jesaja wird also durch die Handlung des Serafims von der Unreinheit des Irdischen befreit und dazu befähigt, an der himmlischen Sphäre teilzunehmen.

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Göttliche Beauftragung Jesajas: Verstockung des Volkes (V. 8‒13)

Auf diese Weise gefahrlos für die himmlische Welt fähig und empfänglich, erhält Jesaja sodann „den Zutritt zu Gott. Er kann ihn nun hören“ (Höffken, 77). Jesaja ist nun Teil der himmlischen Versammlung und kann an deren Ratschluss teilnehmen. Zum ersten Mal im Text wird die Gottheit aktiv, indem sie eine Doppelfrage an das himmlische Gremium richtet („Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ Jes 6,8). Das Verb „senden“ (hebr. šalaḥ) wird meist für von Gott gesandte Personen, v.a. für Propheten verwendet. Mit der typischen Bereitschaftserklärung „Hier bin ich“ (Jes 6,8) meldet sich Jesaja zu Wort und greift anschließend das erste Verb „senden“ aus der göttlichen Frage auf. Der darauffolgende göttliche Auftrag nimmt das zweite Verb „gehen“ auf. Auf Wortebene wird dadurch eine enge Verbindung zwischen Jesajas Bitte und Gottes Auftrag geschaffen. Da der Auftrag zudem formal an andere Botschaftsaufträge an Propheten angelehnt ist (vgl. 2Sam 7,5), kann man hierin eine Begründung dafür sehen, dass es sich in diesem Text eher um eine bestimmte Beauftragung des Propheten als um dessen grundlegende Berufung handelt. Als Adressat des Auftrags wird „dieses Volk“ (Jes 6,9) genannt, womit das „Volk unreiner Lippen“ aus Jes 6,5 gemeint ist. Der Auftrag „Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen“ (Jes 6,9) wird als sog. Verstockungsauftrag bezeichnet. Die Menschen werden aufgefordert, zu sehen und zu hören, so wie auch der Prophet Jesaja im Kontext seiner Beauftragung sah und hörte („ich sah“, Jes 6,1; „ich hörte“, Jes 6,8). Die Sinneswahrnehmungen des Sehens und Hörens werden damit als gleichrangige Phänomene betrachtet, die auch dem Volk zuteilwerden sollen. Allerdings werden sie im Fortgang mit dem Absprechen der geistigen Einsicht kontrastiert („nicht verstehen“, „nicht erkennen“). Die prophetische Botschaft, die von Jesaja ausgeht, soll also gesehen und gehört, nicht jedoch verstanden oder bejaht werden. Das Scheitern wird als Absicht bzw. Ziel der Sendung dargestellt. Da der Verstockungsauftrag im Verhältnis zur sonstigen (Heils-)Botschaft des Jesajabuches paradox erscheint, werden in der Forschung vielfältige Erklärungsmöglichkeiten diskutiert. Höffken favorisiert ein Modell, nach dem die negativen geschichtlichen Erfahrungen rückblickend als Wille Gottes gedeutet werden:  „[D]as Scheitern sei gottgewollt. Denn Gott will das Gericht.“ (Höffken, 80). Vers 10 stellt den Versuch einer Interpretation der paradoxen und rätselhaften Aussage in V. 9 dar. Formal knüpft er an das kunstvolle Arrangement im sprachlichen Stil an, indem die Imperative des Hauptsatzes und die finalen Aussagen des Nebensatzes in einem dreigliedrigen Chiasmus zueinanderstehen (Herz – Ohren – Augen | Augen – Ohren – Herz). Inhaltlich stellt V. 10 jedoch einen Widerspruch zu V. 9 dar: Die Menschen sollen nun gerade nicht sehen und nicht hören. Der Verstockungsauftrag wird somit verschärft, indem nicht nur der Denkapparat (das Herz) betäubt wird, sondern auch die Sinnesorgane (Augen, Ohren) gelähmt werden, womit jegliche Umkehr und jegliches Heil ausgeschlossen werden. Die Septuaginta löst diesen Widerspruch, da es sich dort nicht um einen Auftrag im Imperativ, sondern um eine Anklage an das Volk im Imperfekt handelt („denn das Herz dieses Volkes verfettete, und mit ihren Ohren hörten sie schwer, und ihre Augen schlossen sie“). In Vers 11 wird daraufhin der Dialog weitergeführt. Angesichts der Ungewöhnlichkeit des Auftrags fragt der Prophet nach dessen zeitlicher Begrenzung. Die Antwort Gottes nimmt in allgemeinen Aussagen, die die Wohn- und Lebensweise der Menschen aufgreift („die Städte verödet […] und unbewohnt, die Häuser menschenleer, […] das Ackerland zur Wüste verödet“, Jes 6,11), Bezug auf eine kommende Katastrophe. Diese wird in den folgenden Versen weiter ausgestaltet, doch wird der dialogische Zusammenhang gebrochen, indem mit V. 12 das Subjekt in die dritte Person („der Herr“) wechselt. Die Sendungserzählung endet mit dem Bild vom Baumstumpf, der auf zweierlei Art gedeutet werden kann: entweder als Dokumentation des Untergangs (hier richtet sich der Fokus auf das Verlorengegangene: der Stumpf zeigt die ehemalige Größe an, die nun zerstört ist) oder als Grund für einen kommenden Rest (hier ist der Blickwinkel positiver: der Stumpf wird als Möglichkeit für einen Neuanfang gesehen). Der „heilige Same“ ist wohl mit Blick auf die Theologie vom Rest bei Jesaja vor letzterem Deutungshorizont zu betrachten. Dieses Bildwort kann auf das nachexilische Judentum um Jerusalem bezogen werden, das auch an anderen Stellen als „heiliger Rest“ (vgl. Esr 9,2) bezeichnet wird.

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Fazit

Die Sendungserzählung in Jes 6 dient der Beauftragung und Legitimierung Jesajas als Prophet. Gott wird in seiner Herrlichkeit und Heiligkeit dargestellt und der Prophet rückt in eine hervorgehobene Position, indem er Gott sehen darf und vom Anteil an den Vergehen Israels befreit wird. Aus der himmlischen Versammlung wird er mit einem besonderen Auftrag entsandt. Gott wird dadurch auf der Seite Jesajas lokalisiert, die gemeinsam dem Volk als Opposition gegenüberstehen. Der ungewöhnliche Verstockungsauftrag kann als Verarbeitung des Paradoxes gedeutet werden, dass das Volk dem von JHWH gesandten Propheten Jesaja nicht folgt, indem das Scheitern als Absicht und Ziel der Sendung erkannt wird.

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Quellen

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Erstellt von Marion Bohlender, 2023.