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Jer 1

Die Berufungserzählung des Propheten Jeremia

  1. Aufbau und Struktur
  2. Überschrift und historische Einordnung (Jer 1,1-3)
  3. Berufung Jeremias im wortgeprägten Berufungsschema: Auftrag und Rechtfertigung (Jer 1,4-10)
  4. Die zwei Visionen mit bestimmenden Themen für die Botschaft Jeremias (Jer 1,11-16)
  5. Sendungswort JHWHs (Jer 1,17-19)
  6. Quellen

Aufbau und Struktur

Die Berufungserzählung des Propheten Jeremia ist nicht einmalig biographisch, sondern gilt als typisch, weil er einem festen Schema folgt, das sich auch bei der Berufung anderer wichtiger Persönlichkeiten in dieser Weise wiederfindet (vgl. Mose in Ex 3; Gideon in Ri 6,11-24; Saul in 1Sam 9,1-10,16). Im Unterschied zur Sendungserzählung Jesajas (Jes 6) und der Berufungserzählung Ezechiels (Ez 1-3), die beide von Visionen dominiert werden, folgt die Erzählung Jeremias dem wortgeprägten Berufungsschema. Dieses weist eine feste Reihenfolge auf: Zunächst werden die (1) Umstände der Berufung bekannt gegeben, die oft von einer Gottesoffenbarung begleitet werden. Danach erfolgt der (2) Auftrag Gottes an den Berufenen. Dieser nennt daraufhin einen (3) Einwand gegen den Auftrag Gottes. Hierauf widerspricht Gott in einer (4) Abweisung des Einwands und formuliert eine (5) Beistandszusage. Anschließend besiegelt Gott die Berufung durch eine (6) Zeichenhandlung. Der Berufene schließlich nimmt den Auftrag zwar nicht explizit an, aber es folgen (7) keine weiteren Einwände. Dieser typische Ablauf einer Berufung dient der Legitimierung des Propheten und seiner Botschaft. In seiner nachexilischen Bearbeitung erhält die Berufungserzählung Jeremias darüber hinaus einen weiteren besonderen Akzent: Jeremia wird Prophet für die Völker. Indem die Rede von den „Völkern“ (Jer 1,5.10) den Dialog des Berufungsschemas (Jer 1,6-9) rahmt, erhält die Berufung des Propheten eine universale Perspektive. Die Botschaft des Propheten wird universalisiert und die Bedeutung seiner Worte geht über den eigenen Adressatenkreis und die eigene Zeit hinaus.

Vv. 1-10       Berufung
             1-3        Überschrift mit Angaben zu Name, Herkunft und Wirkungszeitraum des Propheten
             4-10      Dialog zwischen Gott und Prophet im wortgeprägten Berufungsschema
                          4           Umstände der Berufung: Offenbarungsgeschehen
                          5           Auftrag
                          6           Einwand des Propheten
                          7           Abweisung des Einwands
                          8           Beistandszusage
                          9f.         Zeichen
Vv. 11-16     Zwei Visionen
             11-12    Mandelzweig: Kraft und Durchsetzung des Gotteswortes
             13-16    Siedender Topf: Bedrohung vom Norden her und Gericht
Vv. 17-19      Sendungswort: Ankündigung von Widerstand und Bekräftigung durch JHWH

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Überschrift und historische Einordnung (Jer 1,1-3)

Die einleitende Überschrift zur Berufung Jeremias weist Spuren einer vielschichtigen Entwicklung auf, weil die ursprüngliche Überschrift „Die Worte Jeremias“ (Jer 1,1a) um zwei Relativsätze mit weiteren Informationen zur Herkunft des Propheten (Jer 1,1b) und seines Wirkungszeitraums (Jer 1,2) ergänzt wurde. Jeremia stammt nach dieser Angabe aus einer Priesterfamilie, doch war er wohl selbst kein Priester, da er scharfe Polemiken gegen die Priesterschaft seiner Zeit richtet (vgl. Jer 2,8; 5,31; 6,13). Durch die namentliche Nennung der politischen Herrscher Joschija, Jojakim und Zidkija in V. 2f. (während Joahas und Jojachin unerwähnt bleiben) kann sein Wirkungszeitraum auf eine exakt 40-jährige Tätigkeit während der Jahre 627–587 v. Chr. datiert werden. Aus der Retrospektive vom Untergang Judas aus wird Jeremia durch diese Zeitspanne als „zweiter Mose“ stilisiert, der unmittelbar vor der Katastrophe von Jerusalems Zerstörung im Jahre 587 v. Chr. als warnender Bote Gottes aufgetreten ist. Wiederkehrend und strukturierend sowohl für die Berufungserzählung als auch für das Buch Jeremia im Gesamten ist die Wortereignisformel („Das Wort des HERRN erging an mich“, Jer 1,4.11.13; 2,1 u. ö.), die die folgenden Aussagen als Worte Gottes kennzeichnet und somit in einen höheren legitimatorischen Zusammenhang stellt. „Die Bucheinleitung bietet [somit] eine zeitgeschichtliche Einordnung der Prophetie Jeremias und stellt heraus, dass Jahwe selber der Urheber der prophetischen Worte ist“ (Werner, 34). Die Zerstörung von Juda und Jerusalem und die Exilierung der Bevölkerung ereilen das Volk nicht unvorbereitet, sondern haben „in Jeremia ihren von Gott berufenen und beauftragten prophetischen Begleiter“ (ebd., 35).

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Berufung Jeremias im wortgeprägten Berufungsschema: Auftrag und Rechtfertigung (Jer 1,4-10)

Die Wortereignisformel (Jer 1,4) leitet eine Wortoffenbarung Gottes ein und eröffnet den Dialog zwischen Gott und Prophet. Die Umstände der Berufung bestehen somit in einem Offenbarungsgeschehen: Das Wort Gottes wird gehört und der Angesprochene antwortet. Zwar ist die Berufungserzählung als Ganzer (Jer 1,4-19) durchweg als Selbstbericht in der ersten Person Singular formuliert, doch drückt die wiederholt vorkommende Wortereignisformel (Jer 1,4.11.13) aus, dass Gott selber Urheber der Worte und Visionen ist, womit die Botschaft Jeremias durch einen göttlichen Ursprung legitimiert wird. In V. 5 wird Jeremia dreifach persönlich und mit einer besonderen Erwählung angesprochen („dich ausersehen“, „dich geheiligt“, „dich bestimmt“). Gleichzeitig gehen mit dieser Auserwählung auch eine Verantwortung und ein Auftrag einher. Durch die zeitliche Anapher „Noch ehe […], noch ehe […]“ in Verbindung mit der wiederholten Rede vom „Mutterleib“ wird der frühe Zeitpunkt der Erwählung Jeremias hervorgehoben. Von Anfang hat sich Gott den Menschen Jeremia für die prophetische Aufgabe geschaffen. Der Prophet Jeremia steht damit mit seiner Existenz ganz auf der Seite des Schöpfers, der all sein Tun legitimiert. Die Formulierung „Prophet für die Völker“ ist ein singulärer Ausdruck im Alten Testament, der ein Echo erst bei Paulus findet (vgl. Gal 1,15f.). Die Völker sind in der alttestamentlichen Prophetie Werkzeuge für das Gerichtshandeln Gottes. Sie haben Zeugenfunktion und sollen eine Mahnung für Israel sein. Gleichzeitig sind sie bei Jeremia auch selbst Adressaten (vgl. die Sprüche an die Völker in Jer 25 und Jer 46-51). Die Rede von den Völkern, die sowohl das Berufungsschema als auch buchübergreifend die Worte Jeremias (Jer 2-24) rahmt, universalisiert die Botschaft von JHWHs Herrschaft und Souveränität. Auf diese besondere Beauftragung antwortet Jeremia mit einem Einwand (Jer 1,6): Er sei noch zu jung, um vor den Völkern zu sprechen. Hinter dem Einwand der Jugend steht im historischen Kontext die rechtliche Unmündigkeit: Die Worte des Jungen hätten in der Öffentlichkeit kein Gewicht. Dagegen erwidert Gott, dass das Alter kein Hindernis für den Vollzug des Auftrags sei (Jer 1,7). Ausschlaggebend ist allein Gottes Sendung und Beauftragung. Mit dem Beistand Gottes kann Jeremia Bedrohungen und Anfeindungen trotzen (Jer 1,8). Die Gottesspruchformel („Spruch des HERRN“) bekräftigt und besiegelt diese Beistandszusage. Zum Schluss beweist Gott seinen Zuspruch durch eine Zeichenhandlung („streckte […] seine Hand aus, berührte meinen Mund und sagte“, Jer 1,9). Damit wird bereits ein visionäres Element in die Berufungserzählung getragen, die danach in zwei Visionen übergeht. Durch die Beschreibung der Berührung von Körperteilen (Hand Gottes, Mund Jeremias) wird im Bild einer anthropomorphen Gottesvorstellung die enge Beziehung zwischen Gott und dem Berufenen ausgedrückt. Ein performativer Sprechakt („Hiermit […]“, Jer 1,9) begleitet und vereindeutigt dabei die Handlung. Konkret wird der Beistand Gottes bei den Reden Jeremias visualisiert: Eigentlich sind es nicht die Worte Jeremias, sondern die Worte JHWHs („Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund“, Jer 1,9). Deswegen hat Jeremias Einwand, er könne aufgrund seines jungen Alters noch keine Reden halten, kein Gewicht. Die Formulierung des Ausspruchs erinnert an Moses Abschiedsrede in Dtn 18,18 und deutet dadurch bewusst an, dass Jeremia zum von Mose verheißenen Propheten wird: Hier erfüllt sich, was sich dort angekündigt hat. Derartige göttliche Zeichenhandlungen weisen auf die prophetischen Zeichenhandlungen voraus: Sie nehmen Zukünftiges in symbolischer Form vorweg (vgl. Jer 13; 18). Darin zeigt sich, dass das prophetische Auftreten im göttlichen Handeln und Beauftragen gründet. Die Autorisierung durch JHWH selbst verleiht der Botschaft des Propheten Macht und Wirksamkeit. Nach der rahmenden Wiederholung der „Völker“ (Jer 1,10) folgen die programmatischen Verben „ausreißen und niederreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen“ (Jer 1,10), die den Wirkungsbereich und die Aufgaben Jeremias beschreiben. Dabei verkörpern die ersten beiden Verbpaare die Botschaft als Gerichtswort und das dritte Verbpaar die Botschaft als Heilswort. Die quantitative Verteilung der Verben entspricht der Menge an Gerichts- (2/3) und Heilsworten (1/3) im Jeremiabuch. Sie sind im gesamten Buch sehr häufig belegt, haben jedoch nie Jeremia, aber oft JHWH als Subjekt. Auch darin zeigt sich JHWH als eigentlicher Akteur und Urheber der Botschaft. Mit diesem letzten Auftrag („du sollst“ Jer 1,10), der in die Zeichenhandlung integriert ist, wird Jeremia selbst zum Zeichen der göttlichen Botschaft von Gericht und Heil.

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Die zwei Visionen mit bestimmenden Themen für die Botschaft Jeremias (Jer 1,11-16)

Die an das Berufungsschema anschließenden zwei Visionen (Jer 1,11f. und Jer 1,13-16) folgen einem parallelen Aufbau: Sie werden jeweils mit der Wortereignisformel eingeleitet, die je einer Frage JHWHs vorausgeht. Es folgt beide Male eine Antwort des Propheten, die in einer Erwiderung Gottes bestätigt wird. Beide Visionen erhalten ihre Bedeutung durch den ähnlich lautenden Klang der hebräischen Worte. In der ersten Vision (Jer 1,11f.) sieht Jeremia einen Mandelzweig. Gott bestätigt dieses Bild und gibt eine Erklärung, indem er das Wort „Mandelzweig“ (hebr. maqqel šaqed) mit dem Verb „wachen über“ (hebr. šoqed) in einen lautlichen Zusammenhang bringt und darüber deutet. Der Mandelzweig wird somit Symbol für die Qualität des Gotteswortes: Gott sorgt mit fester Konsequenz für die Ausführung und Erfüllung des Wortes. Bei der zweiten Vision (Jer 1,13f.) zeigt sich Jeremia ein dampfender (hebr. nafuach) Kessel, der von Norden her (hebr. zafon) eine Öffnung hat. JHWH deutet diese Erscheinung als bevorstehendes Unheil, das von Norden her (hebr. zafon) seinen Ausgang nimmt (hebr. tiftach). Die zweite Vision konkretisierend schließt sich daran eine Gerichtsankündigung an (Jer 1,15f.), in der JHWH als Richter auftritt und fremde Völker bedrohlich in der Mitte des Landes gegenwärtig werden. Damit wird bereits auf den Untergang Jerusalems vorausgewiesen (vgl. Jer 52). Zur Begründung des Gerichts werden in typisch dtr Formulierungen die Abweichungen und Sünden der Menschen aufgezählt (Jer 1,16). Sowohl die Bedrohung von Norden her als auch die Ankündigung des Gerichts bilden ein zentrales Thema in der Prophetie Jeremias. Somit werden durch diese beiden Visionen Kernthemen angerissen und vorgestellt, die sich durch das gesamte Buch Jeremia ziehen.

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Sendungswort JHWHs (Jer 1,17-19)

Das Sendungswort JHWHs (Jer 1,17-19), das den Abschluss dieser Passage markiert, greift noch einmal das Thema der Berufung auf und schafft einen rahmenden Zusammenhang zum Berufungsschema, indem teilweise wörtliche Übereinstimmungen aufgenommen werden (vgl. V. 7.17 und V. 8.19). So wird ein Teil des Auftrags noch einmal wiederholt („[…] verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage“, Jer 1,17), während der Auftrag, zu „gehen“ (Jer 1,7), nun variiert wird und eine präzisere Konnotation erhält: „den Gürtel hochschürzen“ (Jer 1,17) bedeutet im übertragenen Sinne, sich für den Kampf oder eine Arbeit zu rüsten. Der Prophet soll sich also für die ihm übertragene Aufgabe bereit machen und kraftvoll und furchtlos auftreten. Auch die Beistandszusage (Jer 1,8) wird zum Abschluss gesteigert (Jer 1,18f.) und durch Metaphern erweitert: Durch die Betonung „Siehe, ich selbst“ (Jer 1,18) wird die Autorisierung durch JHWH noch einmal wiederholt und direkt ausgesprochen. In der Gottesrede wird Jeremia zu einer „befestigten Stadt“, einer „eisernen Säule“ und „bronzenen Mauer“ (Jer 1,18). Diese Bilder sind Metaphern für die Standfestigkeit und Widerstandskraft des Propheten, die er gegenüber der Oberschicht von Juda beweisen wird. Werner weist darüber hinaus auf eine weitere Deutungsmöglichkeit hin, bei der die „eiserne Säule“ in Bezug auf die bronzenen Säulen des Tempels, die nach Babylon mitgenommen wurden, interpretiert wird (vgl. Jer 52,22). Jeremia wird demnach in der Synekdoche der „eisernen Säule“ zum Symbol für den Tempel: „Was im Tempel unter- und verloren gegangen ist, wird durch Jeremia ersetzt“ (Fischer, 449). Der Wechsel des Materials von Bronze zu Eisen wird als eine Qualitätssteigerung angesehen, da Eisen widerstandsfähiger und härter ist als Bronze. In diese Deutung fügt sich auch Zengers Interpretation, der abschließend festhält: „Nicht mehr im Jerusalemer Tempel ist JHWH seinem Volk gegenwärtig, sondern durch seinen Propheten Jeremia, der ‚eisernen Säule‘, spricht er zu seinem Volk“ (Zenger, 565). Zum Abschluss des Berufungskapitels wird die Beistandszusage noch einmal aufgegriffen und durch die Gottesspruchformel zum Schluss wirkungsvoll betont („denn ich bin mit dir, um dich zu retten – Spruch des HERRN“ Jer 1,19).

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Quellen

  • Fischer, Georg (1994): „Ich mache dich… zur eisernen Säule“ (Jer 1,18). Der Prophet als besserer Ersatz für den untergegangenen Tempel. In: ZKTh 116/4, S. 447–450.
  • Werner, Wolfgang, Das Buch Jeremia. Kapitel 1-25, Stuttgart 1997 (NSKAT 19.1).
  • Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 561-565.

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Erstellt von Marion Bohlender, 2023.