Totenklage über Israel
- Gliederung und Struktur
- Am 5,1–3: Totenklage
- Exkurs: Leichenklagelied qînā (קינִהָ)
- Am 5,4–6: Mahnung zum Suchen YHWHs
- Am 5,7: Schuldaufweis
- Am 5,8–9: YHWH-Hymnus
- Am 5,10–12 (13): Schuldaufweis
- Am 5,14–15: Mahnung zum Suchen YHWHs
- Am 5,16–17: Totenklage (Unheilsankündigung)
- Fazit
- Quellen
1. Gliederung und Struktur
Am 5,1–17 findet sich im Kontext des zweiten großen Teiles des Amosbuches (Am 3,1–6,14). Inhaltlich ist dieser zweite Teil durch Unheilsworte gegen Israel geprägt, wobei das Fehlen bzw. der Missbrauch von Recht und Gerechtigkeit durch Mächtige zur Mehrung eigener Macht und eigenen Besitzes kritisiert wird.
A 1–3 Totenklage
B 4–6 Mahnung zum Suchen YHWHs
C 7 Schuldaufweis
D 8–9 YHWH-Hymnus
C’ 10–12.13 Schuldaufweis
B’ 14–15 Mahnung zum Suchen YHWHs
A’ 16–17 Totenklage (Unheilsankündigung)
Die Texteinheit ist konzentrisch aufgebaut, wobei sich im Zentrum ein YHWH-Hymnus findet. Gerahmt wird dieser Hymnus durch zwei Unheilsankündigungen in Form einer Totenklage (VV. 1–3.16–17) sowie durch zwei Schuldaufweise (VV. 7.10–12). Unterbrochen wird diese negative Perspektive dabei jeweils durch die Mahnung zum Suchen YHWHs, welche die Möglichkeit zur Umkehr im Sinne einer Gottessuche eröffnet.
2. Am 5,1–3: Totenklage
Am 5,1–3 beginnt im Modus eines Leichenklageliedes qînā (קינִהָ, EÜ: „Totenklage“), das zum „Haus Israel“ (5,1) gesprochen wird. Beklagt wird die „Jungfrau Israel“ (5,2), eine Personifizierung des Nordreiches Israel, die gefallen ist und nicht mehr aufstehen kann. Um dieses Bildwort zu entschlüsseln, ist ein Blick in den historischen Kontext der Stelle hilfreich. Folgt man der Datierung des Amosbuches (vgl. Am 1,1) und verortet Amos in die Zeit des Jerobeam II. (786–746 v. Chr.), so fällt auf, dass das Nordreich in dieser Zeit durch eine florierende Wirtschaft wie auch außenpolitische Ruhe geprägt ist. Das Bild der Jungfrau kann daher für die politische, wirtschaftliche und militärische Kraft und Frische stehen. Zugleich berichtet die Klage aber den Fall der Jungfrau, also genau das Gegenteil der aktuellen Situation. Die Klage muss sich folglich auf ein zukünftiges Unheilsereignis beziehen und darauf aufmerksam machen. Die genauen Umstände des Falles der Jungfrau werden dabei jedoch nicht aus dem Text ersichtlich. Deutlich sind hingegen die drastischen Auswirkungen des Falles der Jungfrau beschrieben: So wird beschrieben, dass die Jungfrau „hingeworfen“ (5,2 ELB; die EÜ übersetzt nicht so treffend „zerschmettern“) ist, am Boden liegt und ihr niemand mehr aufhilft. Verstärkt wird dieses negative Bild durch die Ortsangabe, insofern das Geschehen auf dem Boden des eigenen Landes geschieht. Diese Beschreibung in V. 2 evoziert dabei wohl das Liegenbleiben von Leichen ohne Begräbnis, das nach biblischen Vorstellungen als das schmählichste Ende gilt.
V. 3 schließt an diese Unheilsankündigung als ausdrückliches Gotteswort an, was durch die Botenspruchformel „so spricht GOTT, der Herr“ (5,3) deutlich wird. Der Vers beschreibt eine militärische Niederlage, die nicht nur eine einzelne Stadt trifft, sondern das gesamte Nordreich. Die Zahlen, welche auf militärische Einheiten verweisen, verdeutlichen dies noch einmal, indem eine starke Dezimierung geschildert wird. V. 3 kann von daher als Deutung des Bildwortes in V. 2 verstanden werden, insofern der Tod und das Hingeworfensein der Jungfrau durch eine militärische Niederlage erklärt wird.
3. Exkurs: Leichenklagelied qînā (קינִהָ)
Die Form des Leichenklageliedes (EÜ „Totenklage“, vgl. 5,1) rahmt den konzentrisch aufgebauten Text von 5,1–17 und prägt damit den Grundton dieser Texteinheit. Das Leichenklagelied begegnet im Alten Testament mehrfach. Seinen ursprünglichen Sitz im Leben hat es im rituellen Rahmen einer eintägigen Totenklage und steht anderen altorientalischen Formen der Leichenklage nahe. Die Klage ist dabei ein verbaler Ausdruck der Wertschätzung sowie der Trauer über den Tod einer Person und hat zugleich die Funktion, auch die Trauergemeinde zur Klage und zu Weherufen zu animieren. Kennzeichnend ist eine metrische Prägung, die auch im hebräischen Text von Am 5,2 zu finden ist. Die Weherufe finden sich nicht nur im Kontext der Totentrauer, sondern werden auch bei Untergangs- und Zerstörungskatastrophen vollzogen.
Das prophetische Schrifttum übernimmt die Form des Leichenklageliedes und stellt sie in einen neuen Kontext. Im Zentrum der Klage stehen nun lebende Personengruppen der politischen Führung, Herrschergestalten oder auch Städte. Mittels der Trauermetaphorik der Klage sollen politische Krisen, Zusammenbrüche und Katastrophen drastisch vor Augen gestellt werden. Die Katastrophe wird dabei durch die rituelle Trauer vorweggenommen und zielt darauf, die Verantwortlichen zur Besinnung zu rufen und sie auf ihre soziale und religiöse Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen und YHWH aufmerksam zu machen.
4. Am 5,4–6: Mahnung zum Suchen YHWHs
V. 4 erscheint als Kontrast zur vorausgehenden Leichenklage, insofern er eine hoffnungsvolle Perspektive für das Heil zu eröffnen scheint: „Sucht mich, dann werdet ihr leben!“ (5,4). Das Gotteswort kann aber auch als Zitat eines früheren Wortes dem tatsächlichen Verhalten Israels gegenübergestellt sein, womit es nicht der Eröffnung einer Heilsperspektive dient, sondern vielmehr das Verwirken von Gottes Heilsangebot verdeutlicht. In einem solchen Verständnis zeigen die VV. 4–5 dann auf, dass das Suchen YHWHs einseitig als Aufsuchen von Kultstätten verstanden wurde: „Doch sucht nicht Bet-El auf, geht nicht nach Gilgal, zieht nicht nach Beerscheba!“ (5,5). Die Aufzählung der drei Kultorte unterstreicht das oberflächliche Verständnis, das nicht den vollen Sinn der Gottessuche ausschöpft. Es geht nämlich um eine grundsätzlichere Suche YHWHs in allen Lebensbereichen und an allen Orten. Die Kritik an diesem einseitigen Verständnis wird verstärkt, indem der Untergang der Kultstätten beschrieben wird. So droht Gilgal die Verbannung und Bet-El „wird zum Unheil werden“ (5,5 ELB, die EÜ übersetzt hier ungenau „Untergang“).
Daran schließt sich V. 6 als Kommentarwort des Propheten an, das den V. 4 zitiert, ihn aber anders fortsetzt. Der Kommentar macht deutlich, dass aktuell zwar noch die Möglichkeit besteht, das Unheil zu verhindern, indem Gott gesucht wird. Zugleich werden aber die Folgen aufgezeigt, falls diese Möglichkeit nicht ergriffen wird: „Sonst dringt er in das Haus Josef ein wie ein Feuer, das frisst, und niemand löscht Bet-Els Brand.“ (5,6). Das Feuer, das von niemandem gelöscht wird, erinnert dabei durch seine parallele Konstruktion an die Unheilsankündigung in V. 2, die davon berichtet, dass niemand die Jungfrau Israel aufrichtet.
5. Am 5,7: Schuldaufweis
In der EÜ wird dem V. 7 ein „Wehe“ vorangestellt, allerdings ist dieser Weheruf nicht im hebräischen Text zu finden, daher wird er hier nicht ausgewertet. Inhaltlich findet sich in V. 7 der erste Teil des Schuldaufweises, der das Begriffspaar Recht und Gerechtigkeit behandelt. Das Begriffspaar hat einen mesopotamischen Hintergrund: Recht und Gerechtigkeit werden dort mit dem Sonnengott in Verbindung gebracht bzw. als dessen Kinder betrachtet. Das Begriffspaar steht für den Schutz der Schwächeren und die unparteiische Gerichtsbarkeit. Im AT findet sich das Begriffspaar zum ersten Mal im Amosbuch, wo Recht und Gerechtigkeit keine Gottheiten mehr sind, aber nach wie vor für den Schutz des Schwächeren in sozialer und juristischer Hinsicht stehen. Erweitert wird das Verständnis insofern, als dass die Umsetzung von Recht und Gerechtigkeit dem Willen Gottes entspricht. Der V. 7 schließt an dieses Verständnis an und zeigt auf, dass gerade die Umsetzung des Begriffspaares in Israel nicht stattfindet. So wird Recht in Wermut verwandelt und Gerechtigkeit zu Boden geschlagen (vgl. 5,7). Das Ausmaß dieser Missachtung des göttlichen Willens wird dabei in der Bedeutung der verwendeten Verben deutlich. Das erste Verb, das von der EÜ mit „verwandeln“ übersetzt wird, meint den totalen Umsturz, bspw. durch Erdbeben oder Feuer. Es wird im AT auch als Zusammenfassung u. a. für das Geschehen in Sodom und Gomorra (Gen 19,21.25.29) sowie für die Unheilsankündigung Jonas gegenüber Ninive (Jona 3,4) verwendet. Unterstrichen wird es zudem durch die Erwähnung von Wermut (vgl. 5,7), insofern Wermut als bitteres und giftiges Kraut sinnbildlich als Gegenteil des Rechts angeführt wird. Das zweite Verb „zu Boden schlagen“ (5,7) steht in Jes 28,2 im Kontext von Naturgewalten. In Am 5,7 ist jedoch nicht die Naturgewalt, sondern die Gewalt der Menschen gemeint, welche gegen Recht und Gerechtigkeit, folglich gegen den Willen Gottes, handeln.
6. Am 5,8–9: YHWH-Hymnus
Der begonnene Schuldaufweis wird durch den YHWH-Hymnus in den VV. 8–9 unterbrochen. Neben dem Hymnus in 5,8–9 finden sich zwei weitere solcher Hymnen im Amosbuch (vgl. 4,13; 9,5–6); sie geben dem Amosbuch insgesamt eine besondere theologische Richtung. An dieser Stelle soll der YHWH-Hymnus aber nur im Kontext des Textabschnittes Am 5,1–17 betrachtet und ausgelegt werden.
Im Zentrum der VV. 8–9 steht die Macht Gottes, wobei zunächst an die Schöpfung erinnert wird. Der erste Blick geht auf die Erschaffung des Siebengestirns und des Orion. Das Gestirnpaar findet sich bereits in altorientalischen Mythen und steht hier in Verbindung mit Göttern immer im Kontext von Recht und Gerechtigkeit. So stellt die Nennung von Siebengestirn und Orion in Am 5,8 eine Verbindung zu diesem Begriffspaar her, das bereits im vorherigen Vers präsent war. Durch die Erschaffung der Gestirne wird aber auch die kosmische Herrschaft YHWHs verdeutlicht, durch die er machtvolle Taten vollbringt: „[E]r verwandelt die Finsternis in den hellen Morgen, er verdunkelt den Tag zur Nacht, er ruft das Wasser des Meeres und gießt es aus über die Erde – Herr ist sein Name“ (5,8). Die Taten Gottes, die Finsternis in Licht zu verwandeln sowie das Meer zu rufen, erinnern an die Schöpfung (vgl. Gen 1,1–2,4a), gleichzeitig wird aber auch die Ambivalenz der Macht Gottes deutlich, indem Gott fähig ist, den Tag in die Nacht zu verwandeln sowie eine Flut über die Erde zu schicken. Diese Ambivalenz wird durch V. 9 unterstrichen, insofern von der vernichtenden Macht Gottes berichtet wird, die unerwartet und „plötzlich“ (5,9) den Starken und den Städten gegenüber Anwendung findet. Im Blick auf den Schuldaufweis Israels in V. 7 erscheint der YHWH-Hymnus als eine „‚umstürzende‘ Antwort Gottes auf seinen [Israels] Rechtsumsturz“ (Fleischer, S. 200).
7. Am 5,10–12 (13): Schuldaufweis
Nach der Unterbrechung durch den YHWH-Hymnus wird der Schuldaufweis aus V. 7 in den VV. 10–12 fortgesetzt. V. 10 konkretisiert den Schuldaufweis aus V. 7 zunächst in zwei Beispielen. Beide Beispiele stammen aus der Gerichtspraxis und weisen als Sozialkritik auf die Unterdrückung des Rechtswegs hin. So werden diejenigen gehasst, die Recht sprechen, seien es Richter, Ankläger oder Verteidiger, und die verabscheut, die als Verteidiger oder Zeugen zugunsten der Wahrheit und der Gerechtigkeit aussagen. Die Verben „hassen“ und „verachten“ können darauf hinweisen, dass missliebige Prozessteilnehmer ausgeschalten werden und so der Rechtsweg gebeugt wird.
V. 11 schließt daran ebenso mit konkreten Beispielen der Sozialkritik an. Kritisiert wird hier, dass die Hilflosen (personae miserae) durch Steuern und Pachtgeld zusätzlich geschwächt werden. Der historische Hintergrund könnten dabei die Tributzahlungen nach dem ersten assyrischen Eroberungsfeldzug (723 v. Chr.) sein, welche von der wirtschaftlichen Oberschicht auf die unvermögenden Kleinbauern abgewälzt wurden. Auf den Schuldaufweis folgt die Unheilsansage als Vergeblichkeitsfluch, der deutlich macht, dass das Bauen von Häusern (die „behauenen Steine“ könnten auf die Stadt Samaria verweisen, vgl. Jes 9,8f.) und das Anlegen von Weinbergen vergeblich bleiben: Die Häuser werden kein dauerhafter Wohnsitz bleiben und die Früchte des Weinbergs können nicht genossen werden.
V. 12 führt erneut Beispiele für die Schuld des Nordreiches an. Eröffnet wird dieser Vers zunächst durch die Formulierung „Ja, ich kenne eure vielen Verbrechen“ (5,12 ELB). Im Hintergrund dieser Aussage wird die Erwählung des Volkes deutlich, die durch ein liebendes Kennen Gottes gekennzeichnet ist. Allerdings wird hier auch klar, dass diese liebende Zuwendung Gottes auf Seiten des Volkes nicht beantwortet wurde. Eine angemessene Antwort hingegen wäre es, dem Willen Gottes zu folgen und Recht und Gerechtigkeit umzusetzen. Die kritisierten Verbrechen in den VV. 10–12 sind damit nicht nur der „innerweltlichen“ Sozialkritik zugehörig, sondern auch eine Kritik an der fehlenden Antwort auf Gottes Zuwendung. Kult- und Sozialkritik gehören somit zusammen. Die Pervertierung von Recht und Gerechtigkeit, die sich hier zeigen, werden auch in V. 12 an konkreten Beispielen gezeigt. Hier werden das Bedrängen des Gerechten (5,12 ELB; die EÜ übersetzt hier ungenau „Ihr bringt den Unschuldigen in Not“), das Abweisen des Armen und die Bestechung genannt. Der im Kontext der Bestechung verwendete Begriff kopher (dt. Lösegeld, כֹפֶר) ist dabei allerdings nicht typisch für eine Bestechung, vielmehr bezeichnet er einen Geldbetrag, der als Entschädigung für eine Straftat ausgezahlt wird, um damit ein Leben auszulösen (vgl. Ex 21,30; Num 35,31–32). In der Regel kommt dieses Geld der Familie des Geschädigten zugute. Am 5,12 legt hingegen nahe, dass diese Praxis umfunktioniert wurde, sodass dieses Geld an den freisprechenden Richter ging und der Arme leer ausging.
V. 13 nimmt im Kontext des Schuldaufweises eine Sonderstellung ein. Zwar beginnt der Satz mit einem einleitenden „darum“ und scheint damit an die vorherigen Verse anzuschließen, inhaltlich folgt er jedoch nicht den Unheilsankündigungen. Er ist vielmehr ein Aufruf zum Schweigen und kann als Nachtrag gesehen werden, der zur Deutung der vorherigen Verse eingefügt wurde. Das Schweigen kann dabei als Ausdruck eines Schreckens gewertet werden, beinhaltet aber zugleich eine Hoffnung auf Gottes Rettung (vgl. Klgl 3,26).
8. Am 5,14–15: Mahnung zum Suchen YHWHs
Die VV. 14–15 sind eine Fortsetzung des V. 6, was sich in der erneuten Verwendung des Begriffes „suchen“ zeigt. Auch sie mahnen zum Suchen Gottes und zeigen dazu die positiven Folgen bei Umsetzung der Mahnung auf. V. 14 stellt zunächst das Gute und das Böse antithetisch gegenüber: „Sucht das Gute, nicht das Böse“ (5,14). Dabei bleibt offen, was unter dem Guten, das gesucht werden soll, zu verstehen ist. Deutlich wird aber, dass dieser Grundsatz für das Leben des Volkes notwendig ist, insofern er die Präsenz Gottes sichern kann. Somit wird auch an die VV. 4–6 angeschlossen, die zur Gottessuche in allen Lebensbereichen und an allen Orten aufrufen.
V. 15 greift den vorausgehenden Vers in chiastischer Entsprechung auf, wobei nun andere Verben im Hinblick auf das Gute und das Böse verwendet werden: „Hasst das Böse, liebt das Gute“ (5,15). Die beiden Verben sind dabei emotionale Begriffe, die auf eine innere Beteiligung hinweisen. Das geforderte Tun soll somit aus innerster Überzeugung heraus geschehen. Im Gegensatz zu V. 14 wird das Gute nun konkretisiert: „bringt im Tor das Recht zur Geltung“ (5,15). Es geht folglich um die Umsetzung von Recht, die damit den VV. 7.10–12, welche die Missachtung von Recht und Gerechtigkeit beschreiben, gegenübergestellt wird. Wird diese Mahnung beachtet, dann ergibt sich eine mögliche Heilsperspektive für Israel: „Vielleicht ist der HERR, der Gott der Heerscharen, dem Rest Josefs dann gnädig“ (5,15). Zugleich bleibt diese Heilsankündigung durch das einleitende „vielleicht“ aber sehr vage, denn letztlich bleibt die Gnade Gottes der menschlichen Verfügung entzogen.
9. Am 5,16–17: Totenklage (Unheilsankündigung)
Die VV. 16–17 bilden den Abschluss der konzentrischen Komposition und das Gegenstück zum Leichenklagelied in den VV. 1–2. Während die ersten beiden Verse jedoch die Totenklage des Propheten beinhalten, wird in den VV. 16–17 die Klage des Volkes mittels eines Gotteswortes beschrieben. Dieses wird durch die Botenspruchformel „so spricht der HERR“ (5,16) eingeleitet und endet mit der fast identischen Formel „spricht der HERR“ in V. 17. Die beiden Verse lenken den Blick dabei auf die Wehklage, was durch die Weherufe (vgl. 5,16) und das Vokabular (bspw. „Trauer“, „Klage“) verdeutlicht wird. Inhaltlich nennen beide Verse die Orte der Wehklage, welche die Totalität des Gerichts YHWHs verdeutlichen. Während Plätze und Gassen auf die Städte hinweisen, stehen der Ackerknecht und die Weinberge (vgl. 5,14–15) für die ländliche Regionen, die alle vom Gericht getroffen und daher betrauert werden.
10. Fazit
Am 5,1–17 kündigt im Modus eines Leichenklageliedes, das den Textabschnitt rahmt, den Untergang des Nordreiches an. Ausschlaggebend für die Unheilsankündigung sind dabei kultische wie soziale Verfehlungen, insofern Recht und Gerechtigkeit missbraucht werden und auf diese Weise auch dem Willen Gottes widersprochen wird. Kult- und Sozialkritik gehören also in Am 5,1–17 zusammen. Zugleich bleibt eine vage Hoffnung auf eine Heilsperspektive eröffnet (vgl. 5,15: „Vielleicht“). Diese Mahnung und zugleich bleibende Hoffnung auf eine Heilsmöglichkeit bleiben allezeit aktuell. Sieht man den Untergang des Nordreiches als Vertun der Chance an, die in den VV. 14–15 eröffnet wird, so bleibt damit eine Hoffnung für das Südreich Juda bestehen.
11. Quellen
- Dahmen, Ulrich / Fleischer, Gunther, Die Bücher Joel und Amos, Stuttgart 2001 (NSKAT 23/2).
- Hardmeier, Christof, Totenklage (AT), in: WibiLex online (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/36058/) [zuletzt besucht am 15.11.2023].
- Zenger, Erich, Das Amosbuch, in: Zenger, Erich / Frevel, Christian u. a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1/1), Stuttgart 92016, 649–660.
- Lang, Martin, Wermut, in WiBiLex online (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/34780/) [zuletzt besucht am 29.10.2023].
Erstellt von Katharina Neu, 2023