Sozial- und Kultkritik des Propheten Amos
- Überschrift: Am 1,1
- Motto-Vers: Am 1,2
- Aufbau und Struktur
- Sprüche YHWHs: Am 1,3–2,16
- Fazit
- Quellen
Am 1–2 eröffnen das Amosbuch mit einer Überschrift in Am 1,1 und den anschließenden Völkersprüchen in Am 1,2–2,16. Gerade im Blick auf die Kult- und Sozialkritik des Amosbuches sind diese beiden Kapitel von Relevanz.
1. Überschrift: Am 1,1
Der uns bekannte Titel „Amos“ in den heutigen Bibelausgaben ist eine neutrale, aus dem Text gewonnene Identifizierungshilfe. Im Gegensatz dazu beinhaltet die textimmanente Überschrift in Am 1,1 Einzelelemente mit Aussagewert, welche im Folgenden ausgewertet werden.
„Die Worte, die Amos, ein Schafhirte aus Tekoa, über Israel geschaut hat“ (Am 1,1) – Der Beginn des V. 1 zielt auf die Autorität des Propheten, der hier genauer charakterisiert wird. So werden neben seinem Namen auch sein Beruf des Schafhirten und seine Herkunft aus Tekoa genannt. Wichtig ist dabei auch die Bestimmung der Art seiner Worte: sie sind geschaut und damit das Ergebnis einer Vision, die mit dem Empfang einer Botschaft für das Nordreich Israel verknüpft ist. Die Nennung Israels verdeutlicht dabei den Wirkungskreis des Propheten und seiner Worte.
Darauf folgt eine zeitliche Einordnung seines Wirkens, das „in den Tagen des Usija, des Königs von Juda, und in den Tagen des Jerobeam, des Sohnes des Joasch, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erdbeben“ (1,1) stattfindet. Genannt sind hier die Könige Usija von Juda (786–736 v. Chr.) und Jerobeam II. von Israel (786–746 v. Chr.) sowie ein Erdbeben in Palästina, das wohl um die Mitte des 8. Jhs. v. Chr. in Israel stattfand. Mit diesen Informationen ordnet sich das Amosbuch selbst zeitlich in die Mitte des 8. Jhs. ein. Allerdings muss an dieser Stelle darauf geachtet werden, dass die Zeit, in die sich das Buch selbst einordnet, nicht zwingend mit der Abfassungszeit übereinstimmen muss, denn das Buch könnte über einen längeren Zeitraum entstanden sein. Gerade falls das Buch erst nach dem Untergang des Nordreichs 722 v. Chr. abgefasst worden ist, kann es als nachträgliche geschichtliche Deutung der Katastrophe von 722 verstanden werden, die von Gott selbst infolge der Ungerechtigkeit im Nordreich herbeigeführt worden ist. Zugleich kann das Buch so auch als Warnung vor erneutem Unrecht dienen.
2. Motto-Vers: Am 1,2
Zwischen der Buchüberschrift in 1,1 und den Sprüchen YHWHs in 1,3–2,16 findet sich in V. 2 ein Mottovers, in welchem Amos über YHWH spricht. Dabei werden bereits die zentralen Themen der kommenden Sprüche zusammengebracht. So unterstreicht V. 2 zunächst durch den doppelten Hinweis auf das Erschallen von YHWHs Stimme die Art der Worte des Propheten: diese sind die Umsetzung der göttlichen Stimme in die menschlichen Sprache. Der Prophet kann und soll also als Sprachrohr Gottes verstanden werden. Das Brüllen YHWHs, wie auch das Welken der Auen und das Verdorren des Gipfels des Karmel verdeutlichen die Unheilsbotschaft an das Nordreich Israel, welche durch die Stimme YHWHs verkündet wird. Als Verortung Gottes wird dabei der Zion genannt, woraus sich eine Verortung YHWHs im Südreich ergibt. Aus dieser Verortung lässt sich auf eine Südreichherkunft und -perspektive für den Verfasser schließen, was die Annahme der Abfassung des Buches nach dem Untergang des Nordreichs unterstützen könnte.
3. Aufbau und Struktur
- 1,3–5: Worte über Damaskus
- 3a: Botenformel
- 3b: Zahlenspruch
- 3c: Begründung: Kriegsverbrechen
- 4–5: Strafe
- 4: Feuer
- 5: Konkretisierung
- 1,9–10: Worte über Tyrus
- 9a: Botenformel
- 9b: Zahlenspruch
- 9c–d: Begründung: Kriegsverbrechen
- 10: Strafe: Feuer
- 1,13–15: Worte über Ammon
- 13a: Botenformel
- 13b: Zahlenspruch
- 13c–d: Begründung: Kriegsverbrechen
- 14–15: Strafe
- 14: Feuer
- 15: Konkretisierung
- 2,4–5: Worte über Juda
- 4a: Botenformel
- 4b: Zahlenspruch
- 4c–f: Begründung: Religiöse Vergehen
- 5: Strafe: Feuer
- 1,6–8: Worte über Gaza
- 6a: Botenformel
- 6b: Zahlenspruch
- 6c–d: Begründung: Kriegsverbrechen
- 7–8: Strafe
- 7: Feuer
- 8: Konkretisierung
- 1,11–12: Worte über Edom
- 11a: Botenformel
- 11b: Zahlenspruch
- 11c–f: Begründung: Kriegsverbrechen
- 12: Strafe: Feuer
- 2,1–3: Worte über Moab
- 1a: Botenformel
- 1b: Zahlenspruch
- 1c: Begründung: Kriegsverbrechen
- 2–3: Strafe
- 2: Feuer
- 3: Konkretisierung
- 2,6–16: Worte über Israel
- 6a: Botenformel
- 6b: Zahlenspruch
- 6c–8: Begründung: Soziale und kultische Vergehen
- 9–12: Erinnerung an YHWHs Heilshandeln
- 13–16: Strafe
Regelmäßiger Aufbau der Sprüche YHWHs
Am 1,3–2,16 besteht aus acht Strophen, wobei sich die Strophen durch regelmäßig wiederkehrende Elemente auszeichnen. Folgende Elemente finden sich in allen Strophen:
1) Botenspruchformel: „So spricht der HERR“
2) Zahlenspruch: „Wegen der drei Verbrechen von X und wegen der vier nehme ich es nicht zurück“
Der Zahlenspruch als geprägte Formel findet sich auch an weiteren Stellen des Alten Testaments, vgl. Spr 6,16–19; Sir 25,7–11 u. ö., wobei die Zahl innerhalb des Spruches variieren kann. In den Völkersprüchen ist er mit einer Unwiderruflichkeitsformel „wegen der vier nehme ich es nicht zurück“ gekoppelt, welche die Unabänderlichkeit der Strafe YHWHs verdeutlicht.
3)Begründung/ Nennen des Vergehens: „weil sie …“
Die Vergehen der Nachbarvölker Israels liegen, mit Ausnahme von Juda (religiöse Verfehlungen), im Bereich der Kriegsverbrechen. Leitend ist in dieser Hinsicht der Begriff פֶּשַׁע (pešaʿ, dt. „Verbrechen“). Er steht im weltlichen Bereich für einen Loyalitätsbruch im Sinne eines Abfallens vom jeweils zuständigen Souverän. Im theologischen Bereich steht er, an das weltliche Verständnis anknüpfend, für einen Abfall von YHWH. Die Verwendung dieses Begriffes in Sprüchen an die Nachbarvölker Israels erscheint im theologischen Kontext der Prophetie zunächst eher untypisch, insofern der Begriff eine Verpflichtung gegenüber dem Willen YHWHs voraussetzt. Allerdings ist das menschenverachtende Verhalten aus prophetischer Perspektive grundsätzlich nicht mit dem Willen YHWHs vereinbar. So lässt sich die Ächtung dieses Verhaltens durch YHWH und die Verwendung des Begriffes פֶּשַׁע auch in Bezug auf die Fremdvölker erklären.
4) Strafe: „So sende ich Feuer gegen …“
In der Regel findet sich als Strafmaß YHWHs die Feuerstrafe gegen das jeweilige Volk, wobei sich die beschriebene Strafe in erster Linie gegen die politisch Verantwortlichen richtet. In den Strophen über Damaskus, Gaza, Ammon und Moab findet sich eine Konkretisierung des Strafmaßes, zumal die Ausführung genauer beschrieben und neben dem Feuer auch weitere Strafen genannt werden. Die Israelstrophe hingegen fällt vollkommen aus dem Schema, sie kennt ein eigenes Strafmaß (vgl. 2,13–16).
Die Sprüche YHWHs richten sich gegen Israel und seine Nachbarvölker, wobei jeweils zwei aufeinanderfolgende Völker zusammengenommen werden können: Damaskus (Aramäer) und Gaza (Philister); Tyros und Edom; Ammon und Moab sowie Juda und Israel. Die Sprüche YHWHs laufen dabei insgesamt auf die Israelstrophe zu. Erkennbar wird dies zum einen an der Steigerung der Anzahl der genannten Vergehen: In den ersten sieben Strophen wird jeweils nur ein Vergehen genannt, wohingegen im Falle Israels vier Vergehen aufgelistet werden. Somit wird auch der Zahlspruch als Steigerung auf die Israelstrophe hin verwendet. Zum anderen zeigt sich auch in der Ausführlichkeit und im eigenen Aufbau der Israelstrophe eine Steigerung: neben dem Einschub der Erinnerung an YHWHs Heilshandeln in 2,9–12 wird auch ein eigenes Strafausmaß benannt.
4. Sprüche YHWHs: Am 1,3–2,16
4.1 Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Textpassage
Eine genauere zeitgeschichtliche Einordnung der Textstelle ist schwierig, da die einzelnen Strophen nur schwer historisch auswertbar sind. Zudem stammt die Textpassage in ihrer Endgestalt wohl nicht aus einem Guss, sondern unterliegt verschiedener redaktioneller Stufen.
4.2 Am 1,3–5: Worte über Damaskus
Die Völkersprüche beginnen mit einem Spruch gegen Damaskus, das als Hauptstadt stellvertretend für Aram steht. Als Vergehen wird die Brutalität gegen Gilead genannt, welche mit einem Bild aus der Landwirtschaft beschrieben wird: Gilead wird mit einem eisernen Dreschschlitten gedroschen. Das Motiv des Dreschschlittens findet in der Umwelt des Alten Testaments eine Entsprechung, nämlich in neuassyrischen Texten, welche davon berichten, dass sowohl der König als auch die Gottheit die Feinde „mit eisernen Dreschschlitten dreschen sollen“. Das Motiv des Dreschschlittens findet sich aber auch in der Bibel, so bspw. in Mi 4,13 und Jes 41,15, wobei das Motiv hier jedoch positiv im Blick auf Israel verwendet wird. Geahndet wird das Kriegsverbrechen der Aramäer formelhaft durch Feuer, welches sich zunächst gegen die Machthaber richtet (vgl. bspw. „Hasaëls Haus“ oder „Ben-Hadads Paläste“ Am 1,4). Die Feuerstrafe wird anschließend in V. 5 konkretisiert, wobei auch das gesamte Volk durch eine Verbannung (vgl. 1,5) in die Strafe miteingeschlossen wird.
4.3 Am 1,6–8: Worte über Gaza
An die Worte über Damaskus schließen sich die Worte über Gaza, und somit über die Philister, an. Der Vorwurf dieses Völkerspruches ist die Auslieferung Gefangener an Edom. Auch die Auslieferung von Gefangenen findet sich in neuassyrischen Texten, welche davon berichten, dass Könige sich der Verschleppung von Gefangenen rühmen. Auch für Gaza wird als Strafe formelhaft das Feuer genannt, das zunächst die Herrscher trifft (vgl. die Nennung großer philistäischer Städte: Gaza, Aschdod, Aschkelon, Ekron). Zugleich wird aber auch in V. 8 die Strafe konkretisiert und der gesamten Bevölkerung Unheil in Form des Untergangs angekündigt.
4.4 Am 1,9–10: Worte über Tyrus
Auch Tyrus wird die Auslieferung Gefangener an Edom als Vergehen vorgeworfen, welches mit dem neuen Motiv der Nichtbeachtung eines Bundes zwischen Brüdern (vgl. V. 9) verknüpft ist. Eine solche Vertragsbruderschaft, auf die in Am 1,9 angespielt wird, könnte eventuell in 1Kön 9,13 (Vertragsbruderschaft zwischen Salomo und Hiram von Tyrus) beschrieben sein. Als Strafmaß wird in V. 10 wiederum das Feuer gegen die Herrschenden genannt.
4.5 Am 1,11–12: Worte über Edom
Bei den Worten über Edom steht ebenfalls ein Vertrag im Hintergrund, wobei auch hier ein Vergehen gegen „seinen Bruder“ (1,11) geschildert wird. Durch diesen Vorwurf findet sich eine Verbindung zwischen den Worten über Edom und den Worten über Tyrus. Edom selbst wird in V. 11 aber Gewalt gegen einen Vertragspartner vorgeworfen, wobei es dabei als zorniges Raubtier – kenntlich an Wörtern wie „zerfleischen“ oder „Grimm“ in V. 11 (ELB) – dargestellt wird. Auch gegen Edom wird in 1,12 als Strafe das Feuer gesandt, das die Paläste der Hauptstadt Bozra trifft.
4.6 Am 1,13–15: Worte über Ammon
Ammon werden grausame Kriegstaten gegen Gilead zum Ziele der Gebietserweiterung vorgeworfen. Beschrieben wird dies durch die Tötung Schwangerer (vgl. 1,13). Eine solche Tötung werdenden Lebens und der Mutter ist ein Motiv, das sich biblisch wie außerbiblisch häufiger findet, wobei es für unendliche Grausamkeit und Menschenverachtung steht. Bestraft werden für dieses Vergehen Ammons Herrscher, was in den VV. 14–15 konkretisiert wird.
4.7 Am 2,1–3: Worte über Moab
Auch Moab werden menschenverachtende Taten vorgeworfen, und zwar die Leichenschändung des edomitischen Königs, weil es „die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannte“ (2,1). Die Leichenverbrennung wird im Alten Testament als Frevel am Verstorbenen verstanden, da der Verbrennungstod einerseits nur als Todesstrafe von Straftätern bekannt war und andererseits die Möglichkeit der Beisetzung eines Leichnams mit der Verbrennung nicht mehr gegeben war. Die Beisetzung ist allerdings von großer Bedeutung für die Israeliten. Auch gegen Moab wird formelhaft wieder das Feuer als Strafe gegen die Herrschenden angekündigt (vgl. 2,2f.).
4.8 Am 2,4–5: Worte über Juda
Die Strophe mit den Worten über Juda bildet eine Nahtstelle zwischen den Sprüchen über die Fremdvölker und den Sprüchen über Israel. Mit der Juda-Strophe werden die Vergehen um einen theologischen Akzent erweitert: Stehen zuvor die Kriegsverbrechen der Fremdvölker im Blick, erhalten die Vergehen Judas ihr Gewicht durch die Konfrontation mit dem Willen Gottes. Die Bedeutung des Wortes pešaʿ (פֶּשַׁע, dt. „Verbrechen“) verschiebt sich von der Bedeutung eines menschenverachtenden Vergehens hin zu einer theologischen Vokabel, welche einen Verstoß gegen die Tora benennt.
Juda wird die Nichtbeachtung der Weisungen YHWHs, und somit ein religiöses Vergehen, vorgeworfen, „weil sie sich irreführen ließen von ihren Lügengöttern, denen schon ihre Väter gefolgt sind“ (2,4). Die Einheitsübersetzung nennt an dieser Stelle den Begriff „Lügengötter“ für den hebräischen Begriff kizbêhem (כִּזְבֵיהֶם), welcher jedoch besser mit „ihre Lügen“ zu übersetzen ist. Es geht an dieser Stelle um die Kritik an Lügen-ProphetInnen und die Irreführung durch diese. Lügen von ProphetInnen sowie eine daraus resultierende Irreleitung finden sich auch an anderen Stellen des Alten Testaments. So berichten bspw. Ez 13,6–9; 22,28 sowie Mi 2,11 von Lügen der Propheten und Jer 23,13.32 sowie Mi 3,5 von einer Irreführung durch Propheten. Auch die Vergehen gegen die Tora werden formelhaft durch Feuer bestraft (vgl. 2,5).
4.9 Am 2,6–16: Worte über Israel
Am Ende der Völkersprüche finden sich die Worte über Israel. Die letzte Strophe weicht durch den Einschub einer Erinnerung an das Heilshandeln YHWHs, durch die Nennung von vier Vergehen Israels sowie durch ein eigenes Strafmaß vom typischen Aufbau der vorherigen Strophen ab. Somit zeichnet sich eine Steigerung und eine Komposition hin auf die Israelstrophe ab.
4.9.1 Nennung der sozialen und kultischen Vergehen: Am 2,6–8
Wie auch in der vorhergehenden Juda-Strophe befinden sich die Vergehen Israels in einem theologischen Bereich, der zugleich soziale wie kultische Vergehen umfasst. Als Opfer dieser Vergehen werden dabei der „Gerechte“, der „Arme“, der „Geringe“ und der „Elende“, die „personae miserae“ (Kessler) des Alten Testaments, genannt. Im Gegensatz dazu sind jedoch keine konkreten Täter beschrieben, vielmehr sind es „sie“ oder „ein Mann und sein Vater“, welche die Taten begehen. Daraus lässt sich schließen, dass die Kult- und Sozialkritik der Israel-Strophe keine konkreten Einzelfälle, sondern typische Situationen beschreibt. Dies zeigt sich auch im verwendeten Tempus des Hebräischen. Das yiqtol (2,7–8) drückt eine gegenwärtige Handlung aus, sodass es sich hier nicht um einzelne Taten, sondern um ein dauerhaftes Fehlverhalten handelt.
Der erste Vorwurf an Israel bezieht sich auf die Schuldknechtschaft. Der Vorwurf dabei lautet, dass „sie den Gerechten für Geld und den Armen wegen eines Paares Schuhe verkaufen“ (2,6 ELB). Im Hintergrund dieses Vorwurfes stehen Texte wie Dtn 15,12–14, dort werden die Regelungen für die Schuldknechtschaft festlegt. Auf Grundlage dieser Regelungen wird in Am 2,6 das Motiv der Schuldknechtschaft kritisiert, denn Israel nimmt den Gerechten „für Geld“ (2,6), folglich nur um des Gewinnes willen, und den Armen „wegen eines Paares Schuhe“, also schon aufgrund geringer Schulden in die Knechtschaft. Menschen werden auf diese Weise als Ware missbraucht und gleichzeitig wird auch die Institution der Schuldknechtschaft selbst durch den Verkauf von Menschen missbraucht.
Der zweite Vorwurf richtet sich gegen die Verhinderung von juristischen Verfahren: „Sie treten nach dem Kopf der Geringen ⟨wie⟩ auf den Staub der Erde, und den Rechtsweg der Elenden beugen sie.“ (2,7 ELB). Daraus ergibt sich zum einen eine Demütigung der Schwachen, welche sich im Bild des Tretens auf den Kopf zeigt. Des Weiteren wird verdeutlicht, dass der Rechtsweg gebeugt wird und sich die Geringen in der Gesellschaft dem Unrecht nicht mehr zur Wehr setzen können. Die Verhinderung des Rechtsweges, welche v. a. mittels Bestechung erfolgte, wird auch an anderen Stellen des AT genannt (vgl. Spr 17,23; Ex 23,6).
Der dritte Vorwurf betrifft die Familie bzw. den sexuellen Missbrauch: „Und ein Mann und sein Vater gehen zu demselben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen.“ (Am 2,7 ELB) Der sexuelle Kontext spielt hier möglicherweise auf Konflikte in der Familie an, es geht eventuell um den Missbrauch einer Sklavin in der Familie (vgl. zu Rechten hebräischer Sklaven Ex 21,7–9). Möglicherweise könnte es aber auch um Ehebruch gehen (vgl. dazu Lev 18,8.15).
Zuletzt wird Israel noch der Missbrauch von Pfändung und Strafen vorgeworfen: „Und auf gepfändeten Kleidern strecken sie sich aus neben jedem Altar, und Wein von Strafgeldern trinken sie im Haus ihres Gottes.“ (Am 2,8 ELB). Hier zeigt sich der Missbrauch legaler Rechtsordnungen (Pfänden und Strafgeld), indem die gepfändeten Kleider und das Strafgeld, beides grundsätzlich lebenswichtige Güter (zur Kleidung vgl. Ex 22,25; Dtn 24,12f.), zum Ausleben des eigenen Luxus und zum Feiern verzweckt werden. Möglicherweise werden hier auch Gottesdienste oder Tempel für Feiern missbraucht, was durch die Ortsangaben „neben jedem Altar“ und „im Haus ihres Gottes“ in V. 8 anklingt.
Die vier aufgelisteten Vergehen stammen aus dem Bereich der sozialen Vergehen, wobei wohl in V. 8 auch kultische Vergehen anklingen. Israels Vergehen werden dabei insgesamt auf eine Stufe mit den Kriegsverbrechen der Nachbarvölker gestellt, was sich u. a. in der Verwendung des Zahlenspruchs und dessen Steigerung zeigt.
4.9.2 Erinnerung an Gottes Heilshandeln: Am 2,9–12
Im Vergleich zum regelmäßigen Schema der anderen Strophen wird in der Israel-Strophe zwischen dem Nennen der Vergehen und dem Strafaufweis noch die Erinnerung an das Heilshandeln Gottes an Israel bei Exodus und Landnahme eingefügt. Diese Einfügung verschärft noch einmal die Schuld Israels, denn sie zeigt auf, dass Israel nichts aus der Geschichte gelernt hat. Während die Verse 9–10 die Taten Gottes noch einmal vor Augen führen, werden in V. 11 mit den Propheten und Nasiräern auch zwei Gruppen genannt, welche für die Bewahrung und Erinnerung dieser Taten sowie für das Festhalten an YHWH sorgten. Ein Nasiräer ist dabei ein Gott „Geweihter“, männlich, wie weiblich, und zeichnet sich durch den Verzicht von Alkohol, rituellen Unreinheiten und Haarschnitten aus (vgl. dazu Num 6; Ri 13,5.7; 16,17). Propheten hingegen teilen Israel den Willen Gottes mit und warnen so vor Verfehlungen, wobei Amos selbst auch in diese beschriebene Gruppe gehört. Israel hätte durch die Nasiräer und Propheten die Möglichkeit gehabt, sich zu bekehren und richtig zu verhalten. V. 12 zeigt allerdings auf, dass Israel daran scheiterte, insofern es kritische Stimmen bewusst zum Schweigen brachte (Bezug zu Amos selbst, vgl. Am 7,13–16). Israel ist folglich selbst für seine in Am 2,6–8 aufgelisteten Taten verantwortlich, weil es sich auch bewusst gegen kritische Stimmen wandte.
4.9.3 Strafe: Am 2,13–16
Im letzten Abschnitt der Israelstrophe findet sich die Schilderung der Strafe Gottes, wobei im Blick auf die anderen Strophen das besondere Strafmaß auffällt: YHWH schickt nicht Feuer, sondern handelt selbst, wie es in V. 13 beschrieben wird, indem er ein Erdbeben über das Land schickt, das er Israel einst selbst gegeben hat (vgl. 2,10). Die Strafe ist dabei als verheerende kriegerische Niederlage beschrieben und trifft neben dem Land auch das ganze Volk, also nicht nur die Herrschenden. Die verheerende Niederlage wird auch insofern ersichtlich, als dass es kein Auskommen von dieser Strafe gibt, denn nicht einmal die besten Krieger können ihr standhalten (vgl. 2,14).
5. Fazit
Im Blick auf das Heilshandelns YHWHs trägt Israel eine noch größere Schuld als die Nachbarvölker. Dabei sind Israels Vergehen v. a. sozialer Art, wobei sich in Am 2,8 aber auch Anspielungen auf kultische Vergehen finden. Dies entspricht dem Anliegen des Amosbuches insgesamt, insofern Kult- und Sozialkritik durch den unauflöslichen Zusammenhang von Glaube und gesellschaftlichem Handeln immer zusammengehören. Ihren Grund finden die genannten Vergehen in der Selbstsucht der Gesellschaft, welche nicht einmal durch die Institutionen der Propheten und Nasiräer, welche Israel vor den Vergehen hätten bewahren können, beeinflusst werden konnte. Die Strophe mündet schließlich in der Strafe in Form einer kompletten Vernichtung des Volkes.
Die Fremdvölkersprüche zeigen insgesamt die universale Weite des Wirkens YHWHs und verschärfen zudem die Sozialkritik an Israel und die religiöse Kritik an Juda. Im Blick auf das weitere Buch wird die Funktion der Völkersprüche deutlich: Aus Israels Erwählung folgt kein Privileg auf Verschonung, vielmehr hat Israel seinen Schutz der Erwählung verwirkt und wird nun hinsichtlich der Strafe auf eine Stufe mit den anderen Völkern gestellt.
6. Quellen
- Dahmen, Ulrich / Fleischer, Gunther, Die Bücher Joel und Amos, Stuttgart 2001 (NSKAT 23/2).
- Höffken, Peter, Amos / Amosbuch, in: WibiLex online (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/10045) [zuletzt besucht am 16.10.2023].
- Kessler, Rainer (2021): Amos (IEKAT), Stuttgart.
Erstellt von Katharina Neu, 2023.