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Die Lage in Palästina

Politische Unabhängigkeit war der Bevölkerung in Palästina nur als biblische Erinnerung bekannt. Das verheißene Land blieb dabei eine vage Hoffnung, die in unterschiedliche theologische Konzepte integriert wurde. Von besonderer Aktualität waren diese Konzepte insbesondere zur Zeit Jesu, da die Römer ihren Machtanspruch besonders konsequent und erfolgreich druchsetzten. Widerstand war dadurch vorprogrammiert, der schließlich mit der Zerstörung des herodianischen Tempels im jüdischen Krieg gipfelte. Folgende Unterpunkte wollen Einblicke in die Verhältnisse in Palästina im Blick auf unterschiedliche Gruppierungen und prägende religiöse Strömungen geben.

Inhaltsverzeichnis

Das Judentum

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Da das Christentum aus dem Judentum erwachsen und es schließlich zum Bruch zwischen Judentum und Christentum gekommen ist, stellt sich die Frage, was das Judentum im ersten Jahrhundert ausgemacht hat und wie die Grenzen jüdischer Identität zu beschreiben sind.

I. Gruppierungen und »Mainstream«

Ein Blick in die neutestamentlichen Texte lässt unterschiedliche Gruppierungen (Pharisäer, Sadduzäer, Zeloten, Schriftgelehrte) erkennen, die im Verständnis jüdischer Theologie zu konkurrieren schienen. Diese Parteiungen galten in der Forschung lange als Beschreibungskriterium jüdischer Identität (Stichwort »Gruppenpluralismus«). Eine Definition des Judentums über diese Sonderpositionen übersieht allerdings den jüdischen Mainstream der Zeit. Die Forschung hat versucht, auf dieses Problem zu reagieren und unterschiedliche neue Beschreibungsversuche unternommen. Die beiden wichtigsten Ansätze sollen hier kurz vorgestellt werden:

 

II. »Common Judaism«

Ed Parish Sanders setzt dem Gruppenpluralismus die Definition eines sogenannten »common judaism« entgegen. Er arbeitet dabei die einenden Aspekte jüdischer Religiosität heraus. Gemeinsame religiöse Inhalte seien demnach der Monotheismus, die Erwählung des Volkes Israel durch Gott, die Tora sowie Sühnevorstellungen. Der gemeinsame Glaubensvollzug zeige sich im Tempelkult, der Beschneidung, der Sabbatheiligung, den Speise- und Reinheitsvorschriften. Die speziellen Gruppierungen sind vor diesem Hintergrund als jüdisch, nicht umgekehrt das Judentum von diesen Gruppierungen her zu verstehen.

 

III. Ethnische Definition

Neuere Ansätze versuchen, das Judentum nicht mehr über die Religion zu definieren, sondern als Ethnie aufzufassen. Die Religion ist dabei weiterhin wesentlicher, aber nicht unbedingt einzig zentraler Bestandteil. E.W. Stegemann skizziert eine ethnische Definition des Judentums in etwa folgendermaßen:

  • Ein bestimmendes Element ist das geographische Gebiet: Judäa gibt der Ethnie der Judäer den Namen, wobei das Gebiet nicht mit der dort lebenden Bevölkerung gleichgesetzt werden darf. Hierfür sind weitere Definitionskriterien zu berücksichtigen.
  • Wichtig ist auch das Gefühl der gemeinsamen Abstammung – biblisch gesprochen sind es die Patriarchen und die 12 Stämme Israels.
  • Die Ethnie hat eine gemeinsame Geschichte – für die Judäer ist diese in den biblischen Gründungsmythen und prägenden geschichtlichen Erfahrungen festgehalten (Exodus, Landnahme, Babylonisches Exil).
  • Bestimmend für die Judäer sind ihre speziellen Gesetze – die Tora, die nicht nur in Judäa oder Galiläa Bestand haben, sondern der Ethnie auch in der Diaspora ihre Identität geben.
  • Schließlich war der Kult ein wichtiges Kriterium der Zuordnung (Tempelkult, Opferhandlungen).

Auch wenn beide Ansätze in Kritik stehen, das religiöse Profil des antiken Judentums in den Hintergrund zu drängen, leisten sie methodisch das Gegenteil: Durch die differenzierte Darstellung der Zusammenhänge kann gerade in Abgrenzung mit der Umwelt Klärung auch religionshistorischer Fragen erwartet werden.

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Zur wirtschaftlichen Lage

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I. Entwickelte Agrargesellschaft

Der größte Teil der Bevölkerung war in der Landwirtschaft tätig – man rechnet mit mehr als 90%. So hat ein Großteil der Bevölkerung in relativ kleinen Ortschaften gelebt – mit jeweils nur wenigen hundert Einwohnern. In den wenigen größeren Städten waren auch Handwerk und Handel wichtige Wirtschaftszweige. Bedeutender Handelssektor in Palästina war im ersten Jahrhundert der Fischfang, der nicht nur zur Deckung des Eigenbedarfs betrieben wurde, sondern auch zum Export bestimmt war. Daher bildeten sich größere Betriebe, die sich auf die Verarbeitung und den Handel mit Fischereiprodukten spezialisierten.

 

II. Steuerlast

Neben der Steuer auf Grund und Boden (dem tributum soli) musste im römischen Provinzsystem jeder Provinziale im arbeitsfähigen Alter eine Kopfsteuer (tributum capitis) bezahlen. In das Eintreiben dieser Steuern scheint die lokale Oberschicht eingebunden gewesen zu sein. Die unregelmäßigen Abgaben (z.B. Wegzoll, Steuern auf Handelsgeschäfte) wurden verpachtet. Die Abgabenpächter – sie begegnen in den Evangelien als »Zöllner« – waren meist Kleinunternehmer, die keiner Kontrolle unterlagen und deshalb auch überhöhte Abgaben erpressen konnten. Der »Oberzöllner« Zachäus (Lk 19,1-10) wird als Generalsteuerpächter für ein größeres Gebiet dargestellt.

Das System der Steuerpacht haben wahrscheinlich auch die herodianischen Klientelherrscher genutzt.

 

III. Folgen

Nicht zuletzt die Abgabenlasten führten in Palästina zu Verschuldung und Verarmung. Kleinbauern oder Pächter konnten gezwungen sein, als Tagelöhner Geld hinzuzuverdienen. Sie verloren auch häufig ihr Land, wenn sie die Abgabenlasten nicht mehr tragen konnten. Am Beginn des Jüdisch-Römischen Krieges (66-70 n.Chr.) wurden nicht zufällig die Schuldarchive verbrannt (E.W./W. Stegemann). 

Es gibt allerdings auch Rekonstruktionen, die vor allem für Galiläa zur Zeit Jesu günstigere wirtschaftliche Verhältnisse voraussetzen.

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Sozialbanditentum

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I. Zum Begriff

Der Begriff »Sozialbanditentum« wird angewandt auf den Widerstand, der in bäuerlichen Gesellschaften als Reaktion auf Unterdrückung und Ausbeutung entsteht.

 

II. Charakterisierung

»Sozialbanditen« schließen sich zu Banden zusammen, die meist von unzugänglichem Gebiet aus operieren und Anschläge gegen Angehörige der Oberschicht verüben. Von ihrem ehemaligen gesellschaftlichen Umfeld werden sie meist geschützt und unterstützt; als Symbol für einen Ausweg aus Unterdrückung können sie sogar zu Volkshelden werden (später z.B. Schinderhannes oder Robin Hood).

Ein Sozialbandit reagiert zwar auf Ausbeutung, er hat aber kein bestimmtes politisches oder religiös-politisches Programm. Darin unterscheiden sich die Sozialbanditen von den Zeloten und Sikariern. Das Werk des Josephus enthält Zeugnisse von der Existenz solcher »Räuberbanden« v.a. zu Beginn der herodianischen Zeit (Bell. II 204; 303ff) und zur Zeit der zweiten Prokuratur (44-66; Ant. XX 5; Bell. II 228fff; Ant. XX 121).

 

III. Sozialbanditentum mit Gegenkönigen

Den Übergang zur politisch bewussten Form des Widerstandes könnten Banden darstellen, deren Anführer einen königlichen Anspruch erhoben. Drei solcher Gegenkönige werden von Josephus namentlich genannt (Judas aus Galiläa; Simon; Athronges; Ant. XVII 272ff). Neben diesen soll es Josephus zufolge eine Vielzahl solcher Banden gegeben haben.

Man darf im beschriebenen Phänomen wohl den Hintergrund des Prozesses gegen Jesus sehen: Wenn Jesus als »König der Juden« verklagt wird, war er aus Sicht des Pilatus sofort einzuordnen in eine bekannte Erscheinung, an deren Zerschlagung den Römern nur gelegen sein konnte.

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Zeloten und Sikarier

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I. Das Problem der Abgrenzung

Die beiden wichtigsten Gruppen von Aufständischen, Zeloten und Sikarier, können nicht mehr zweifelsfrei voneinander abgegrenzt werden, weil Josephus die beiden Gruppenbezeichnungen nicht immer in gleichem Sinn verwendet.

Wahrscheinlich sind die Sikarier anlässlich des Widerstands gegen den Zensus 6/7 n.Chr. entstanden, unter Führung des Judas Galiläus. Die Zeloten sind dann eine priesterlich bestimmte Widerstandsgruppe, die zwar erst im Jahr 66 in Erscheinung tritt, aber etwas älter sein könnte.

Nach einer Phase gemeinsamen Kampfes kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen.

 

II. Charakterisierung

Im Blick auf die Überzeugung, dass das Land Eigentum JHWHs ist, der es Israel zur Nutzung übergeben hat, duldeten die antirömischen Widerstandsgruppen keine Kompromisse. Eine Anerkennung der römischen Herrschaft wurde als Verstoß gegen das erste Gebot verstanden (Ant. XVIII 1,6); gefordert war vielmehr der Widerstand gegen die Römer mit allen Mitteln. Nur wenn Israel den ersten Schritt zu seiner Befreiung tut, wird Jahwe rettend eingreifen (Ant. XVIII 1,1).

  • Josephus verschleiert den Bezug auf allgemein geteilte Glaubensüberzeugungen (Land als Gabe JHWHs an Israel) und unterstellt den Widerstandsgruppen Neuerungssucht. Er will diese Gruppen für den verheerenden Krieg verantwortlich machen und will sie deshalb vom übrigen Judentum isolieren.

Aus diesem Programm erklären sich die kennzeichnenden Momente des antirömischen Widerstands:

  • die Radikalität, mit der gegen die Römer vorgegangen wurde sowie gegen Juden, die zu einer Zusammenarbeit mit Rom bereit waren;
  • die vorbehaltlose Leidensbereitschaft.

Eine Grundsatzfrage war für die Widerstandsgruppen mit der Frage nach der Erlaubtheit der kaiserlichen Steuer gestellt (Bell. II 8,1). Gerade das römische Steuersystem machte den Anspruch der Römer auf den Besitz des Landes deutlich. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Szene Mt 22,15-22 verstehen: Jesus wird mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Steuern in eine Zwickmühle gedrängt. Bejaht er, widerspricht er dem jüdischen Anspruch auf das Gelobte Land; verneint er, liefert er sich der Durchsetzung des kaiserlichen Anspruches aus. Vertretern beider Ansprüche entgegnet Jesus mit der bekannten Forderung: »Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist« (Mt 22,21), insofern römische Münzen mit dem Gesicht des Kaisers geprägt waren.

Der Ausgang des Jüdisch-Römischen Krieges bedeutete zwar nicht das völlige Ende des gewaltsamen Widerstands gegen Rom (zwei Erhebungen im 2. Jh. n.Chr.). Aber in der weiteren Entwicklung des Judentums spielten die Traditionen des gewaltsamen Widerstands bis in die jüngste Vergangenheit dann keine Rolle mehr.

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Die Sadduzäer

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I. Ursprung und Quellen

Wahrscheinlich leitet sich der Name der Sadduzäer von »Zadok« her, einem führenden Priester aus der Zeit Davids und Salomos. Seinen Nachkommen war es offenbar gelungen, eine über Jahrhunderte währende Priesterdynastie zu bilden, der die größte Bedeutung unter den Priestern zukam.

In den Wirren der Zeit Antiochus‘ IV. verloren sie diese Stellung und konnten sie auch während der Hasmonäerdynastie nicht zurückgewinnen. Aus den Teilen der zadokidischen Priesterschaft, die trotz dieser Vorgänge in Jerusalem blieb sowie aus Teilen des nichtpriesterlichen Adels ging wohl die Gruppe der Sadduzäer hervor.

Die Quellenlage zu den Sadduzäern ist besonders ungünstig. Wir haben nur Nachrichten aus Kreisen, die dieser Gruppe nicht wohlgesonnen sind (Flavius Josephus, NT, rabbinische Tradition).

 

II. Charakterisierung als Gruppe

Die Sadduzäer waren eine politisch aktive Gruppe, die Einfluss anstrebte und sich mit den jeweiligen Verhältnissen zu arrangieren wusste. Im Verlauf ihrer Geschichte ist dies den Sadduzäern in unterschiedlichem Ausmaß gelungen.

  • Unter den Hasmonäern konnten sie Einfluss gewinnen, mussten ihn aber nach der Darstellung des Josephus zwischenzeitlich an die Pharisäer abtreten.
  • In den Augen des Herodes waren die Sadduzäer durch ihre Nähe zum Hasmonäerhaus zunächst politisch verdächtig, im Laufe der Zeit konnten sie aber auch unter Herodes wie unter den römischen Statthaltern die wichtigsten Ämter besetzen.

Die soziale Zusammensetzung ist schon aus dieser Geschichte überdeutlich: Die Sadduzäer setzten sich praktisch ausschließlich aus der Jerusalemer Oberschicht zusammen.

 

III. Theologie

Die Sadduzäer haben allein die fünf Bücher Mose als heilige Schrift anerkannt (Ant. XIII 10,6). Als Repräsentanten der althergebrachten kultischen Ordnung waren sie wenig zugänglich für religiöse Neuerungen, wie sie sich v.a. seit dem Durchbruch des apokalyptischen Denkens verbreiteten. Dieses konnten sie unter Hinweis auf die Offenbarung durch Mose abweisen.

Nach Josephus leugnen die Sadduzäer das Schicksal und behaupten die völlige Wahlfreiheit des Menschen zwischen Gut und Böse (Bell. II 8,14). Diese »griechisch« formulierte Aussage könnte zurückgehen auf die Ablehnung eines apokalyptischen Geschichtsplanes.

  • Vielleicht ist darin auch die Überzeugung begründet, dass Gott sich ganz aus der Welt zurückgezogen habe (Bell. II 8,14). Hier könnte es freilich auch einen Zusammenhang geben mit der kultischen Ausrichtung der Sadduzäer. Denn kultisches Denken ist gekennzeichnet durch die Auffassung von der Erhabenheit Gottes, der allein im Kult gegenwärtig wird.

Nach dem Zeugnis des NT bestritten die Sadduzäer die Auferstehung der Toten (Mk 12,18; Apg 23,8; Josephus spricht für sein Publikum davon, dass die Sadduzäer ein Weiterleben der Seele nach dem Tod ablehnten). Dies passt zur obigen Charakterisierung, denn diese Überzeugung setzte sich erst spät durch in der Glaubensgeschichte Israels.

Die Leugnung von »Engel und Geist« (Apg 23,8) könnte zusammenhängen mit der Haltung der Sadduzäer zur Auferstehung (gegen die Vorstellung, die Gerechten gehörten zwischen Tod und Auferstehung dem Reich oder der Existenzweise von Engeln oder Geistern zu). Sonst wäre an eine Frontstellung gegen die Apokalyptik zu denken.

Eine Heilserwartung im streng endzeitlichen Sinn kann man den Sadduzäern wohl nicht zuschreiben, höchstens in Form eines idealen Reiches Israels, das im Tempel als dem Ort der Entsündigung Israels wurzelt.

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Die Pharisäer

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I. Ursprung und Quellen

Häufig wird der Ursprung der Pharisäer in der Bewegung der Chassidim gesehen, die vor allem im Gefolge der Einsetzung Jonathans ins Hohepriesteramt in zwei Gruppen zerfallen sei: Pharisäer und Essener. Wirklich belegen lässt sich diese Rekonstruktion aus den Quellen nicht. Die Vorgeschichte der Pharisäer bleibt im Dunkeln.

Als Quellen kommen Josephus, Neues Testament und rabbinische Literatur in Frage. Jeder Strang hat seine eigene Problematik:

  • Die rabbinische Literatur ist nicht einfach Fortsetzung spezifisch und exklusiv pharisäischer Traditionen. Außerdem bestehen Probleme bei der Datierung rabbinischer Überlieferungen. Dennoch ist auch diese Linie auswertbar,
    • wenn sich inhaltliche Übereinstimmungen in religiösen Überzeugungen mit den beiden anderen Quellensträngen ergeben;
    • wenn man das Bild von der Bedeutung der Pharisäer als wichtigster jüdischer Gruppe am Ende des 1. Jh., das sich aus dem NT und Josephus ergibt, historisch ernst nimmt.
  • Im NT werden die Pharisäer im Wesentlichen als gegnerische Gruppe dargestellt, so dass bei der Auswertung Vorsicht geboten ist.
  • Auch Josephus ist nicht frei von Tendenzen, wenn auch eher in umgekehrter Richtung. Er empfiehlt die Pharisäer als wichtigste Repräsentanten des Judentums.

 

II. Name, Zusammensetzung, Lebensweise

Der Name ist vom hebräischen peruschim herzuleiten und bedeutet: »Losgetrennte«. Er ist den Pharisäern wohl von Außenstehenden gegeben worden und bezieht sich auf den Grundzug dieser Gruppe: die Absonderung von allen kultisch Unreinen.

Die Pharisäer waren vor allem eine Laienbewegung, die den größten Teil der Schriftgelehrten umfasste. Trotz geringer Mitgliederzahl (Ant. XVII 2,4: 6000) hatten sie Josephus zufolge enormen Einfluss. Das NT bestätigt diesen Eindruck.

Wenn Josephus von den Pharisäern sagt, dass sie »enthaltsam leben und keinen Luxus kennen« (Ant. XVIII 12/1,3), verbirgt sich dahinter wohl die Einschätzung, dass die Pharisäer ihren Gesetzesgehorsam im praktischen Leben ernst genommen haben (s.a. Lk 18,12; Mt 23,3f ist dagegen polemisch).

 

III. Die Tora als Zentrum pharisäischer Frömmigkeit

Im Mittelpunkt der pharisäischen Frömmigkeit steht die Tora. Bei Josephus und in der Apg wird den Pharisäern eine besonders genaue Gesetzesauslegung zugeschrieben. Dies bedeutet aber nicht, dass sie die strengsten Ausleger gewesen wären; die Pharisäer waren vielmehr vergleichsweise liberal:

  • Der rabbinische Grundsatz »Macht einen Zaun um die Tora!«  soll die Tora vor Übertretungen schützen, indem sie praktikabel gemacht wird. Sie sollte mit den Erfordernissen des täglichen Lebens in Einklang gebracht werden, um so ein Leben nach der Tora zu ermöglichen (z.B.: Lebensgefahr verdrängt den Sabbat).
  • Matthäus bestätigt in 12,10f das Bild einer vergleichsweise liberalen Gesetzesauslegung bei den Pharisäern.

Diese Haltung ist aber kein Hinweis darauf, dass es den Pharisäern nicht ernst gewesen wäre mit dem Gesetzesgehorsam. Sie haben sich freiwillig an die priesterlichen Reinheitsgebote gehalten und Fasttage und Verzehntungsvorschriften eingehalten, zu denen sie nicht verpflichtet waren (Lk 18,12).

Neben den fünf Büchern Mose haben die Pharisäer auch die Überlieferungen der Väter anerkannt. Inhaltlich dürfte es dabei um die oben genannten Fragen der Reinheit und um Verzehntungsvorschriften gegangen sein (s. Mk 7; Mt 23).

Dass es kein von oben geregeltes Verständnis des Gesetzes gab, dürfte nicht erst für die Rabbinen zutreffen. Vielleicht kann man in der Aussage des Josephus, die Vernunft habe bei den Pharisäern eine herausragende Bedeutung (Ant. XVIII 12/1,3), einen Verweis auf die Diskussion um das rechte Verständnis des Gesetzes sehen.

 

IV. Göttliche Vergeltung und Barmherzigkeit

Häufig wird die Position der Rabbinen (und der Pharisäer) so bestimmt: Der Mensch schafft sich durch Gesetzeserfüllungen ein positives Konto, durch -übertretungen ein negatives. Gott vergleicht beide Werte im Gericht und fällt das Urteil nach dem Ergebnis dieses Vergleichs (ewiges Heil/ewige Verdammnis). Daraus konnte ein starkes religiöses Selbstvertrauen erwachsen: Wer das Gesetz erfüllt, erwirbt sich ein Anrecht auf das Heil, verdient sich die Gnade Gottes.

Aber: Diese Rekonstruktion beruht auf einem Missverständnis (E.P. Sanders): Einzelne Äußerungen, die eine mahnende Absicht haben, wurden als systematische Lehre ausgegeben. Unter diesem Aspekt sind die Aussagen in der rabbinischen Literatur widersprüchlich. Die Widersprüche lösen sich auf, wenn man die Funktion der verschiedenen Aussprüche bedenkt:

  • Es wird zum bestmöglichen Gesetzesgehorsam gemahnt, indem seine Bedeutung für die künftige Welt herausgestellt wird.
  • Die Hinweise auf göttliche Vergeltung sollen sicherstellen, dass Gott nicht willkürlich handelt.

Zur Frage der göttlichen Barmherzigkeit lässt sich für die Pharisäer möglicherweise keine gruppenspezifische Überzeugung erarbeiten. Die Frommen, die ihr Leben am Willen Gottes ausrichten, dürfen auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen, die Frevler nicht. Diese Überzeugung ist von den atl Wurzeln her mit der Gesetzesfrömmigkeit verbunden.

 

V. Endzeiterwartungen

Die Pharisäer haben die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten geteilt (Apg 23,8; Josephus mutet seinen Lesern die für sie schwer verständliche Vorstellung einer leiblichen Auferstehung zu).

Das gewaltsame Herbeidrängen der Gottesherrschaft haben die Pharisäer abgelehnt, vielleicht auch die Berechnung des Endtermins (ausdrücklich erst in rabbinischen Überlieferungen).

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Johannes der Täufer

Literatur

  • K. Backhaus, Echoes from the wilderness. The historical John the Baptist, in: T.Holmen/S.E. Porter (Hrsg.), Handbook for the study of the historical Jesus II, Leiden 2011, 1747-1785.
  • U.B. Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu (Biblische Gestalten 6), Leipzig 22013.
  • Ph. Vielhauer, Tracht und Speise Johannes des Täufers, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 47-51.
  • Abschnitte zu Johannes dem Täufer in Monographien zum historischen Jesus.

Quellenlage

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I. Josephus und synoptische Tradition

Fragt man historisch nach der Gestalt Johannes des Täufers, so kann zum einen auf die Antiquitates des Flavius Josephus, zum andern auf die synoptischen Evangelien als Quellen zurückgegriffen werden. Das JohEv bietet zwar auch Täufertraditionen; diese sind aber so konsequent in die Christusbotschaft integriert, dass der Täufer zum ausdrücklichen Christuszeugen wird. Wie die Verkündigung Jesu im JohEv ganz als Ausdruck des Christusbekenntnisses umgeformt ist, so auch das Wirken des Täufers: Johannes verkündet Jesus als den kommenden Geisttäufer und Sohn Gottes (Joh 1,33f) und hat damit seine Aufgabe erledigt (3,25-30).

 

II. Die Tendenz des Josephus

Die synoptische Tradition (Mk und Q) zeichnet von Johannes das Bild eines Propheten, der mit einer endzeitlichen Gerichtsbotschaft auftritt. Davon findet sich keine Spur bei Josephus. Ihm zufolge ist Johannes ein Moralprediger, ein »edler Mann …, der die Juden anhielt, nach Vollkommenheit zu streben, indem er sie ermahnte, Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegen Gott zu üben und so zur Taufe zu kommen.« (Ant. XVIII 5,2) 

 

Das Motiv für diese Darstellung lässt sich unschwer erkennen: Josephus will im Rückblick auf die Katastrophe des Jüdisch-Römischen Krieges ein Bild des Judentums zeichnen, das nicht von endzeitlichen Erwartungen geprägt ist; denn solche Hoffnungen haben eine erhebliche Rolle beim Aufstand gegen die Römer gespielt. Er tilgt also den eschatologischen Charakter der Botschaft des Täufers, damit der geschilderte Zulauf (»eine gewaltige Menschenmenge strömte zu Johannes«) nicht als Beleg einer potentiell antirömischen Stimmung erscheint.

 

Die synoptische Tradition hat bei der Charakterisierung von Auftreten und Botschaft des Täufers eher Anspruch auf historische Zuverlässigkeit. Was die Hinrichtung des Johannes betrifft, kann allerdings das von Josephus genannte Motiv durchaus eine Rolle gespielt haben: Furcht des Herodes Antipas vor einem politisch gefährlichen Anwachsen der Täuferbewegung.

 

 

Die Botschaft des Täufers

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I. Das nahe Gericht

Johannes kündigt das nahe Gericht an und kann davon bildhaft sprechen:

  • Lk 3,9par: Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt, unfruchtbare Bäume werden umgehauen und verbrannt. Im zweiten Spruchteil ist ein Bild für das Gericht aufgenommen, in dem »schon« drückt sich dessen Nähe aus.
  • Lk 3,17par: Er hält die Schaufel in der Hand und wird den Ausdrusch reinigen. Hier ist die Scheidung von Spreu und Weizen Bild für das Gericht. Die »Schaufel in der Hand« zeigt an, dass diese Scheidung unmittelbar bevorsteht.

Johannes kann das Gericht auch als »kommenden Zorn« beschreiben (Lk 3,7par).nach oben

 

II. Umkehr und Taufe

Angesichts des Zorngerichts bleibt nur Umkehr (Mt 3,8par).

Umkehr ist unbedingt nötig: Es gibt für Israel keine Heilsgarantien mehr. Die Aussage in Lk 3,8par soll wohl den Gedanken abweisen, Gott müsse für Israel Heil wirken, weil er sonst seiner Verheißung an Abraham untreu würde.

Die Taufe ist zum einen auf die Umkehr bezogen, setzt sie voraus und besiegelt sie. Zum andern vermittelt sie die Sündenvergebung (Mk 1,4; Lk 3,3). Der Täufer ist also kein reiner Gerichtsprediger, er sieht in Umkehr und Taufe das Heil eröffnet. Allerdings motiviert er zur Ergreifung dieser Chance durch die Gerichtsdrohung.

 

III. Der Kommende

Johannes kündigt eine Gestalt an, die das Gericht durchführen und eine Taufe spenden wird, die der Wassertaufe des Johannes gegenübergestellt ist: entweder eine Taufe »mit heiligem Geist und Feuer« (Mt 3,11; Lk 3,16 bzw. Q) oder eine Taufe »mit Feuer«, falls der Bezug auf den Geist urchristliche Interpretation darstellt.

Für die ersten Christen ist Jesus Christus der vom Täufer angekündigte Kommende. In den synoptischen Evangelien gibt es aber kein Wort, in dem Johannes ausdrücklich auf Jesus hinweisen würde (Mt 3,14f ist nicht als öffentliche Verkündigung dargestellt). Offensichtlich hat es eine solche Überlieferung zunächst nicht gegeben.

Für Johannes ist am ehesten Gott der Kommende, denn der Gedanke des Gerichts ist in der atl-jüdischen Tradition stärker mit Gott verbunden als mit dem Menschensohn. Außerdem stand offenbar kein Wort zur Verfügung, in dem der Täufer ausdrücklich vom Menschensohn-Richter gesprochen hätte. Dieses wäre in der urchristlichen Tradition sicher nicht verloren gegangen: Jesus wurde ja als Menschensohn bezeichnet. Wenn man eine solche Möglichkeit, die Täuferbotschaft auf Jesus zu beziehen, nicht nutzt, dann spricht dies dafür, dass es diese Möglichkeit nicht gegeben hat.

 

Das Auftreten des Täufers

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I. Der Wüstenprediger

Nach den Darstellungen der Evangelien trat Johannes in der Wüste auf – dies dürfte auf historischen Gegebenheiten beruhen. Zu der endzeitlichen Botschaft des Johannes passt jedenfalls die Wüste als Aufenthaltsort, denn die Wüste galt als Ort des endzeitlichen Neubeginns.

  • Es sind auch anderweitig Nachrichten aus dem 1. Jh. n.Chr. überliefert, nach denen endzeitliche Propheten Menschen in die Wüste geführt haben, um dort die Wiederholung der Wunder aus der Zeit der Wüstenwanderung Israels zu erleben. Diese Vorstellung verstand jene Zeit der Wüstenwanderung nach dem Exodus als ideale Zeit, in der Gott unmittelbar bei seinem Volk war und sich ihm offenbarte. Dieser Zustand wird für die Endzeit wieder erwartet.

Welche Vorstellungen Johannes genau aufgegriffen hat, lässt sich freilich nicht mehr ausmachen. Wir wissen nichts davon, dass die Erwartung von Wundern für ihn eine Rolle gespielt hätte. Angesichts der reinen Gerichtspredigt ist dies auch eher unwahrscheinlich. Man kann kaum mehr sagen als dies: Johannes steht in einer Tradition, die die Wüste als endzeitlichen Ort kennt. Insofern kann er durch seinen Wüstenaufenthalt die endzeitliche Bedeutsamkeit seiner Botschaft unterstreichen.

 

II. Nahrung und Kleidung des Johannes

In Übereinstimmung mit dem Bild von Johannes als Wüstenbewohner wird seine Lebensweise geschildert. Er ernährt sich von Heuschrecken und wildem Honig und trägt als Kleidung ein Gewand aus Kamelhaaren sowie einen ledernen Gürtel (Mk 1,6).

Die Auslegung der Notizen ist umstritten. Häufig wird angenommen, die Kleidung aus Kamelhaaren weise Johannes als Propheten aus. Dies setzt aber eine Tradition voraus, die sich nicht überzeugend nachweisen lässt: der härene Mantel als Prophetentracht. Dass Johannes einen ledernen Gürtel um die Hüften getragen habe, erinnert zwar an eine Formulierung, mit der in 2Kön 1,8 LXX der Prophet Elija beschrieben wird. Als Anspielung auf das Selbstverständnis des Johannes als wiedergekommener Elija (s. Mal 3,23) lässt sich dies aber nicht ohne Weiteres auswerten. Denn die Beschreibung der Kleidung des Täufers im Ganzen lässt keine Orientierung am Vorbild Elijas erkennen.

Die Notizen über die Kleidung sind nicht anders als die über die Nahrung im Zusammenhang des Aufenthaltes in der Wüste zu sehen: Es handelt sich um die normale Kleidung und Nahrung von Wüstenbewohnern, und das bedeutet: Im Rahmen der beschriebenen Wüstentypologie sollen sie den endzeitlichen Charakter der Botschaft des Johannes unterstreichen (Ph. Vielhauer).

Faktisch ist seine Lebensweise damit zwar asketisch; ob darauf aber der für Johannes entscheidende Ton liegt, ist nach dem Gesagten eher zu bezweifeln.

► Zum Verhältnis Jesus – Johannes der Täufer siehe hier

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Qumran und die Essener

Quellenlage

Die Diskussion um Qumran und die Essener wird durch die Frage nach dem Verhältnis von drei Größen bestimmt:

  • Antike Nachrichten über die Essener (Flavius Josephus, Plinius d.Ä., Philo von Alexandrien, Notizen bei Kirchenvätern)
  • Schriftenfunde in den Höhlen von Qumran
  • Siedlung von Qumran

Die klassische Deutung hat eine Verbindung zwischen allen drei Größen erkannt:

►Die Schriftenfunde gehen auf eine Gruppierung zurück, die in antiken Quellen als Essener bezeichnet wird und die Siedlung von Qumran bewohnt hat.

Zur neueren Diskussion um Qumran und Essener

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I. Bestreitung des alten Konsenses

Im Zentrum der neueren Diskussion steht die Frage, ob zwischen den Schriftrollen und der Qumran-Siedlung ein Zusammenhang besteht. Neuere Arbeiten (Y. Hirschfeld; J. Zangenberg) bestreiten, dass wegen der lokalen Nähe beide Größen in innerer Verbindung stehen müssen, und fordern

  • eine von den Schriften unabhängige Auswertung des archäologischen Befundes;
  • die Einordnung Qumrans in Struktur und Geschichte der Region am Toten Meer.

Dabei zeige sich, dass die Siedlung ein landwirtschaftliches Gut war, das in die wirtschaftlichen Beziehungen der Region eingebunden war.

Die Schriftrollen werden dann nicht einer jüdischen Gemeinschaft zugeordnet, sondern als Querschnitt durch die damalige literarische Produktion verstanden. Die verschiedenen Gruppen, die in Jerusalem ansässig waren, haben in den Wirren des Jüdisch-Römischen Krieges ihre Bibliotheken in den Höhlen am Toten Meer in Sicherheit gebracht.

 

II. Verteidigung des alten Konsenses

Die klassische Position (siehe oben) verweist demgegenüber auf die Besonderheit der Siedlung: Sie lasse sich gerade nicht in das Bild integrieren, das sich aus den sonstigen Ausgrabungen der Region ergebe (J. Magness):

  • Zahl und Größe der rituellen Reinigungsanlagen (miqva‘ot) gehen über das übliche Maß hinaus und passen eher zu einer Gemeinschaft mit besonderem Interesse an ritueller Reinheit (wie in den Schriftrollen zu finden).
  • Speisesaal mit Vorratsraum für zahlreiche Schüsseln, Lagerstätten für Tierknochen, Tintenfässer, zylindrische Keramikkrüge: all dies unterscheidet die Funde von Qumran und weist auf eine besondere Halacha der dort lebenden Gemeinschaft.

Außerdem wird auch bestritten, dass sich nachweisen lasse, die Gegend um Qumran sei aufgrund eines damals feuchteren Klimas fruchtbarer gewesen als heute. Aus antiken Quellen sei nur zu belegen, dass es Balsamplantagen bei Jericho und En-Gedi gab – den einzigen Orten mit dauerhaften Wasserquellen auf der Westseite des Toten Meeres.

 

III. Beispiele für unterschiedliche archäologische Beurteilungen

Streitfrage Hirschfeld Magness
War das Klima am Toten Meer im 1. Jh. feuchter als heute? ja nein
Sind die Keramikfunde ins 2. Jh. vC zu datieren? ja nein
Sind die Turmmauern ursprünglich verstärkt gewesen ja nein
Gibt es hochwertige Keramik-, Glas- und Steinfunde in nennenswertem Ausmaß? ja nein
Ist der Grad der innenarchitektonischen Ausschmückung hoch? ja nein
Sind Zahl und Größe der Mikwen vergleichbar mit anderen Ausgrabungen? ja nein
Entsprechen die Tierknochenfunde einem üblichen Muster? ja nein
Gilt das auch für die Tintenfässer-Funde? ja nein

Der archäologische Befund ist also nicht so eindeutig, dass er nur eine Interpretation zulässt. Da zudem der wissenschaftliche Endbericht zur Ausgrabung Qumrans noch nicht veröffentlicht ist, scheint es gerechtfertigt, die Siedlung von Qumran nicht allein auf archäologischer Basis zu interpretieren, sondern die Nähe zu den Fundorten der Schriftrollen einzubeziehen.

 

IV. Zur Frage nach dem Zusammenhang von Schriftenfunden und Siedlung

Diese oben bereits als zentral vorgestellte Frage ist in mehrere Teilfragen zu zerlegen:

► Welche Indizien gibt es für die Zusammengehörigkeit der beiden Größen?

  • Geographische und zeitliche Nähe: Ein Großteil der Handschriften stammt aus der Zeit, in der Qumran besiedelt war. Manche Höhlen liegen in unmittelbarer Nähe zur Siedlung (z.B. 4Q und 7-9Q), waren nur über die Siedlung erreichbar und künstlich angelegt. Dies spricht dafür, die dortigen Funde mit der Siedlung in Verbindung zu bringen.
  • Keramikfunde verbinden Höhlen und Siedlung (»scroll jars«).

►Was spricht für eine Trennung von Schriftenfunden und Siedlung?

  • Das Eintreten für eine Trennung verdankt sich dem methodischen Postulat, die archäologischen Funde für sich zu interpretieren, und nicht von den Rollen her zu präjudizieren.

►Gibt es Argumente gegen die Annahme einer Zusammengehörigkeit beider Größen?

  • Kann diese Fülle von Handschriften (wohl über 800) in Qumran entstanden sein? Muss angesichts des Umfangs der Funde nicht ein größerer Ursprungskreis angenommen werden?
  • Lässt sich ein inhaltliches Profil der Sammlung erkennen oder spricht die Disparität des Materials für eine differenzierte Herkunft, nicht von einer Gruppe?

►Gibt es Argumente gegen die Verbringung der Schriftrollen von einem anderen Ort?

  • Der Brom-Gehalt analysierter Tinte (1QHa) spricht dafür, dass die Tinte in der Gegend am Toten Meer hergestellt wurde und zumindest diese Rolle nicht aus Jerusalem stammt (Ira Rabin).
  • Handschriften eines Schreibers finden sich in fast allen Höhlen (Ada Yardeni).
  • Würde man Schreibübungen (4Q360) oder »Tadel durch den Aufseher« (4Q477) zum Verstecken ans Tote Meer transportieren?
  • Lässt sich ein plausibles Szenario für die Verbergungsaktion von weither entwickeln? Wenn deren Träger-Kreis als groß angenommen wird, stellt sich die Frage, warum nach der Aktion so viel liegen geblieben ist. Hat sich niemand mehr für das aufwändig Verborgene interessiert? Warum sollten, wie in der Diskussion vorgeschlagen, Flüchtlinge aus Judäa, die am Toten Meer südwärts weiterziehen, die mitgeführten Rollen in den Qumran-Höhlen deponieren?

►Gibt es Indizien für eine Zusammengehörigkeit der verschiedenen Schriftenfunde?

  • Devorah Dimant: 3 Gruppen von Texten mit fast überall identischer Verteilung in den Höhlen: biblische Texte, Texte mit jachad-Terminologie, Texte ohne diese Terminologie [jachad=Bund, Gemeinschaft – der Begriff dient in Qumran-Texten als Selbstbezeichnung der Träger-Gruppe]; evtl. vierte Gruppe: Texte ohne jachad-Terminologie, aber mit starkem Einfluss auf den Jachad (äthHen; Jub, Tempelrolle, Apokryphon Jeremias).
  • Heinz-Josef Fabry: Höhle 4 bietet nahezu alle insgesamt belegten Textgattungen und Texte. Es gibt ein inhaltliches Profil durch tempelfeindlichen Inhalt vieler Texte und Bezüge auf Sonnenkalender (vs. Jerusalem-These).
  • Fehlen pharisäisch geprägter Texte und der prohasmonäischen Makkabäer-Bücher deutet einen Selektionsprozess an.

►Gibt es Indizien gegen eine Nutzung von Qumran durch eine religiöse Gemeinschaft?

Die bisherige Diskussion scheint geprägt von dem Gegensatz (zurückgezogene) Kloster-Gemeinschaft vs. regional vernetzte Siedlung. Müssen wirklich Gegensätze konstruiert werden zwischen solcher Vernetzung und einer Gruppe mit einem bestimmten religiösen Programm? 

  • Dass sich die Frage nach Individualität oder Regionalität der Qumran-Siedlung so sehr in den Vordergrund geschoben hat, könnte mit dem Ursprung der Essener-Hypothese zusammenhängen. Da der Ausgräber von Qumran, Roland de Vaux, die Siedlung als »Klosteranlage« deutete, etwas, das man in dieser Form in jüdischem Kontext zuvor nicht kannte, betonte er die Merkmale, die die Einzigartigkeit der Siedlung und die Zurückgezogenheit ihrer Bewohner bezeugten, und ließ andere (wie etwa Glasfunde) unter den Tisch fallen.
  • Heute könnte man alte Gräben in diesem Streit zuschütten: Falls Qumran Sitz einer religiösen Gemeinschaft war, könnte dies mit einer viel weitergehenden Einbindung in die Gegebenheiten der Region verbunden sein, als man für die »Kloster-These« voraussetzen muss. Auch landwirtschaftliche oder handwerkliche Nutzung der Anlage stehen nicht notwendig in Konkurrenz zueinander.

►Wie ist die Zuordnung der Schriftenfunde zu den Essenern zu beurteilen?

  • Es gibt einerseits Widersprüche zwischen dem Bild der Essener bei Josephus und den Qumran-Funden (Bell. II 124/8,4 : die Essener haben keine eigene Stadt, sondern in jeder wohnten viele von ihnen).
  • Andererseits weiß Plinius von Essenern am Toten Meer: nördlich von En Gedi, das ein gutes Stück südlich von Qumran liegt (nat. hist. V,17; allerdings ist das Verständnis der fraglichen Passage umstritten).
  • Außerdem gibt es sehr starke Übereinstimmungen zwischen Josephus und Qumran-Texten (1QS, CD); sie können bis in Details gehen. Dies spricht für einen Zusammenhang von Qumran und Essenern, zumindest im Blick auf einen Teil der Texte.

 

Fazit

Die klassische Position ist auch nach derzeitigem Stand nicht obsolet, auch wenn ihre Plausibilität nicht mehr im selben Maß gegeben ist wie in früheren Jahren.

Die Schriftenfunde

Inhaltsverzeichnis

Drei Gruppen von Schriften wurden in Qumran gefunden.

I. Alttestamentliche Texte

Sie sind besonders von Bedeutung für die Textgeschichte des AT (wichtig v.a. zwei Jesaja-Rollen).

  • Handschriften, die tausend Jahre älter sind als die bislang bekannten ältesten Handschriften des hebräischen Textes.
  • In jener frühen Zeit waren offensichtlich verschiedene Textformen biblischer Schriften im Umlauf. Der masoretische Text, den man bis dahin ausschließlich kannte, war nur eine Form unter mehreren.
  • Die Rollen aus Qumran bestätigen aber, dass diese schließlich »siegreiche« Textform äußerst genau überliefert wurde: Es gab sie schon im 1. Jh. v.Chr.

 

II. Apokryphen und Pseudepigraphen

Dies sind Schriften, die (später) nicht in den jüdischen Kanon kamen, aber schon vor den Qumran-Funden bekannt waren: Funde von

  • Tobit
  • Jesus Sirach
  • Buch der Jubiläen
  • Henoch-Literatur
  • Testamente der zwölf Patriarchen

jeweils in Fragmenten.

 

III. Bisher unbekannte Texte

Sie sind am interessantesten für die Erforschung von Qumran. Zu nennen sind hier vor allem:

  • Gemeinderegel (1QS)
  • Loblieder (1QH)
  • Kriegsrolle (1QM)
  • Damaskusschrift (CD)
  • Kommentare zu biblischen Schriften (z.B. der Habakuk-Kommentar).

Gruppenorganisation

Inhaltsverzeichnis

I. Aufnahmeverfahren (1QS VI)

Probezeit
Sie ist in der Dauer nicht festgelegt. Durch den Leiter der Gemeinschaft erfolgt eine Prüfung, dann entscheidet die Versammlung der Vollmitglieder über Aufnahme oder Ablehnung des Bewerbers.

Aufnahmezeit

  • Sie besteht aus zwei Phasen zu je einem Jahr.
  • Der Besitz geht in die Gemeinschaft ein, wird aber noch nicht zugunsten der Gemeinschaft verwendet. Der Bewerber hat noch nicht Anteil am Besitz der Gemeinschaft und nimmt nicht teil am gemeinsamen Mahl.

Aufnahme

  • Nach Vollendung des zweiten Jahres wird über die Annahme als Vollmitglied entschieden.
  • Der Bewerber wird aufgenommen »unter Beteiligung seines Vermögens«, gewöhnlich verstanden als Besitzgemeinschaft.
  • Mit einem Eid verpflichtete sich der Neueintretende zur Umkehr zum Gesetz und zum Einhalten der gruppenspezifischen Lehren, auch zu deren Geheimhaltung gegenüber Außenstehenden.

 

II. Ordnung der Gruppe

Jeder hatte seinen Platz aufgrund seines Alters, seiner Bewährung und Erkenntnis – eine Rangfolge, die jährlich überprüft wurde. Die führende Rolle hatten Priester inne, ihnen nachgeordnet kam auch den Leviten besondere Bedeutung zu. Eine genauere Aufgaben- und Funktionsverteilung lässt sich nur schwer aus den Texten erheben.

Ein Verstoß gegen Vorschriften oder Vorgesetzte wurde einer Strafordnung entsprechend geahndet. Die recht detaillierten Bestimmungen gehen bis zum völligen Ausschluss aus der Gemeinschaft.

 

III. Eine abgesonderte Gemeinschaft

Die Absonderung drückt sich vor allem aus in der Ablehnung des Jerusalemer Tempelkultes (CD VI,11f; 1QS IX,3-6). Begründet ist diese Ablehnung nicht in einer prinzipiellen Kultkritik, sondern in einer abweichenden Interpretation der Kult-Tora (v.a. in Kalenderfragen).

Durch die Absonderung vom Kult entsteht für die Priester ein Problem: Welche Funktion haben sie abseits des Tempels? Antwort: Die Gemeinschaft selbst ist an die Stelle des Tempels und seiner Opfer getreten (4QFlor I,2-7; 1QS VIII,5), sie übernimmt mit ihrem toragemäßen Leben die wesentliche Funktion der Opfer, nämlich »zu sühnen für das Land« (1QS VIII,6.10).

Die Essener haben sich bereitgehalten, in der Endzeit den legitimen Kult zu vollziehen (1QM II,5). Deshalb spielt auch rituelle Reinheit eine besondere Rolle, bestätigt vor allem durch archäologische Funde.

Auch das täglich eingenommene gemeinsame Mahl ist im Rahmen der Distanzierung vom Jerusalemer Tempelkult zu sehen: als Ersatz für die Opfer (1QS VI,20; VI,5f).

 

IV. Ehelosigkeit?

Ob manche Essener programmatisch ehelos lebten, ist umstritten. Die antiken Quellen erwähnen eindeutig ehelos lebende Essener. Es wurde versucht, dies als Missverständnis plausibel machen; doch dies kann kaum überzeugen.

1QS spricht nicht von Frauen und Kindern (im Unterschied zu CD, wo eindeutig Familien vorausgesetzt sind). Dies könnte darauf hinweisen, dass hier ehelos lebende Gruppenmitglieder im Blick sind. Die archäologischen Funde in Qumran sprechen nicht dagegen: Zwar wurden Gräber von Frauen und Kindern entdeckt, aber nur in einem Fall im zentralen Teil des Friedhofs.

Manche Forscher gehen deshalb von einem »inneren Kreis« in Qumran aus, der ehelos lebte – trotz mancher Bestreitung nicht unmöglich. Der Sinn der Ehelosigkeit kann nur in der Bewahrung der kultischen Reinheit liegen

 

V. Arbeit, Gebet, Tora-Studium

Besonders das Tora-Studium charakterisiert die Qumran-Essener (Schriftkommentare; 1QS VI,7).

Theologie

Inhaltsverzeichnis

I. Der heilige Rest

Die Gruppe hinter den Qumran-Texten versteht sich als Jahwes Bundesvolk. Sie ist der heilige Rest, der allein das Volk Gottes im Heiligen Land repräsentiert (»Israel« auch als Bezeichnung der eigenen Gruppe).

 

II. Gnade Gottes

Sehr stark wird Gottes Gnade betont, durch die allein man zu diesem Bund kommen kann. Das menschliche Handeln wird dennoch nicht bedeutungslos: Der von Gott Erwählte wird auf den Weg des Gesetzesgehorsams gebracht, in dem er sich bewähren muss.

 

III. Dualistisches Denken

Es herrscht ein Gegensatz zwischen Gott und Satan, Gut und Böse, Licht und Finsternis – aber nicht im Sinne zweier gleichrangiger Prinzipien. Gott hat auch die Geister der Finsternis geschaffen, die mit den Geistern des Lichtes im Streit liegen. In diesen Streit ist der Mensch hineingezogen. Die Abgrenzung ist ganz grundsätzlich: Die »Söhne des Lichtes« sollen die »Söhne der Finsternis« hassen (1QS I,9f), sich ganz von ihnen abgrenzen.

 

IV. Strenge Schriftauslegung

Die Essener kannten keine Kompromisse und Erleichterungen im Blick auf die Erfordernisse des täglichen Lebens (deutlich vor allem in den Sabbatvorschriften; z.B. CD XI,16f). Angezielt ist dabei die Umkehr des Herzens zum Gott Israels und zu seinem Willen (1QS I,2f).

Zum rechten Verständnis der Schrift sind besondere Offenbarungen nötig, wie sie dem Lehrer der Gerechtigkeit gegeben wurden (1QpHab II,8-10; VII,4f). Der eigentliche Sinn der prophetischen Schriften war nicht auf die Gegenwart der Propheten gerichtet, sondern auf die Endzeit. Jetzt, in der Zeit der eigenen Gemeinschaft wird dieser verborgene Sinn enthüllt, so dass man den Prophetenbüchern die Ereignisse der Endzeit entnehmen konnte.

 

V. Endzeiterwartungen

Als wesentlich endzeitlich geprägte Bewegung machten sich die Essener Gedanken über den Termin des Endes. In der Kriegsrolle bieten sie ein Szenario der Endereignisse.

  • Im endzeitlichen Rachekrieg werden die Söhne des Lichtes nach einem 40 Jahre dauernden Kampf über die Mächte der Finsternis siegen. Die Schilderung des Kampfes wirkt schematisch und unwirklich (die bösen Mächte haben von vornherein keine Chance). Alle sieben Jahre wird eine einjährige Pause eingelegt. So wird Gottes Größe herausgestellt, er verurteilt die Mächte, die jetzt den Ablauf der Geschichte bestimmen, zur Ohnmacht.
  • Nach 1QS IX,11 treten drei endzeitliche Gestalten auf: der Prophet wie Mose (Bezug auf Dtn 18,15.18) und zwei Messiasse, ein davidischer Laienmessias und ein priesterlicher Messias (Bezug auf Num 24,15-17; vgl. auch 4QTest; 4QFlor I,11 und CD VII,19-21, wo wahrscheinlich auf zwei Messiasse angespielt ist).

    Das Verhältnis der drei Figuren zueinander ist auf jeden Fall so zu bestimmen, dass der Priester-Messias dem Laien-Messias übergeordnet ist; er dürfte, der priesterlichen Prägung der Essener entsprechend, überhaupt die höchste eschatologische Gestalt sein. Er hat für die Reinheit der endzeitlichen Gemeinde zu sorgen, nachdem der Laien-Messias seine Aufgabe als Heerführer im Rachekrieg erfüllt hat.

 

Heilserwartung

Von der Auferstehung der Toten ist in den gruppeneigenen Texten zwar kaum die Rede, aber diese Vorstellung ist in Schriften bezeugt, die in Qumran gelesen wurden (s.a. Einzelgräber).

Die Vorstellung von der Heilszeit begegnet in zwei Formen: einmal als Restitution des Früheren, indem die Schöpfung in ihren ursprünglichen Zustand versetzt wird; zum andern als neue Schöpfung, in der eine vom heiligen Geist geprägte neue Menschheit geschaffen wird.

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Messiaserwartung

Literatur

  • Karrer, M., Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998, 132-142.
  • Schreiber, S., Die Anfänge der Christologie. Deutungen Jesu im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2015, 12-31.

Salbungs- und Gesalbten-Traditionen

Das Alte Testament kennt den Begriff »Messias« nicht in Bezug auf eine endzeitliche Rettergestalt, spricht aber von Gesalbten in folgenden Zusammenhängen.

  • Gesalbt wurden Könige (1Sam 9,16 u.ö.), auch bezeichnet als »Gesalbte des Herrn« (z.B. 1Sam 12,3; 2Sam 19,22), doch endet diese Linie mit dem Untergang des Reiches Juda. Sie wird auch in hasmonäischer Zeit (2./1. Jh. v.Chr.) nicht erneuert. Es bleibt hier, wie auch bei den späteren Aufstandsbewegungen, beim Titel »König« – ohne das Prädikat des Gesalbtseins.
  • Salbung kommt auch dem Hohepriester zu (Sach 4,14 sprach noch von zwei »Ölsöhnen« und meinte damit Herrscher und Hohenpriester, doch erfüllte sich diese Hoffnung nicht). Seine Salbung bezeugen Pentateuch-Texte (Lev 4,3.5; Ex 29), der Titel »Gesalbter« erscheint allein in späten Texten (1Chr 29,22; Sir 45,15; Dan 9,25f; 2Makk 1,10; vgl. G. Theißen/A. Merz 463). »Mit dem Konflikt unter Antiochos Epiphanes brach diese Linie ab« (also in der ersten Hälfte des 2. Jh. v.Chr.; M. Karrer).

Es blieben Salbungen im Rahmen des Kultes. Sie hatten den Sinn, Ort und Vollzüge dem Alltag zu entheben und in Verbindung mit Gott zu bringen (Ex 30,22-29; 40,9-11, Philo).

Von einer Prophetensalbung ist nur an einer Stelle die Rede (1Kön 19,16), außerdem in übertragenem Sinn von der Salbung mit dem Geist Gottes (Jes 61,1f). Auf dieser Linie ist es wohl zu verstehen, wenn unumstrittene Größen der Vergangenheit als Gesalbte bezeichnet werden (die Patriarchen: Ps 105,14f), Mose (4Q377 fr. 2 II 4ff), die Propheten (1QM 11,7f), bisweilen auch das ganze Volk, im Rahmen einer Aussage über den idealen Anspruch (Hab 3,13LXX; Sib 5,68).

Wie die frühjüdische Gesalbten-Traditon zu charakterisieren ist, wird unterschiedlich beurteilt.

  • Martin Karrer betont die kultische Praxis der Salbung, die Übertragung des Gesalbten-Motivs auf Gestalten der Vergangenheit bei gleichzeitiger Zurückhaltung, den Titel auf politisch wirksame Figuren der Geschichte anzuwenden. »Als Gesalbter lässt sich zur Zeit Jesu und der Urchristen allein bezeichnen, wer Gott einzigartig und durch nichts beeinträchtigt zugehört.«
  • Stefan Schreiber sieht dagegen, dass sich der Titel »Gesalbter« im 1. Jh. v.Chr. »längst von einem konkreten Salbungsvollzug gelöst« hat, und legt den Akzent auf königliche Messias-Konzeptionen, zu denen sich ein Grundgerüst erheben lasse, das in verschiedenen Variationen ausgeformt worden sei (siehe nächster Punkt).

Messianische Figuren

Inhaltsverzeichnis

I. »Messias« als erwarteter königlicher Herrscher

Das Alte Testament bezeugt zwar die Erwartung eines idealen Herrschers, der als Nachkomme Davids Recht und Gerechtigkeit heraufführen wird (z.B. Jes 8,23-9,6; 11,1-5; Jer 23,5f), nennt ihn aber nicht »Messias«. Dies geschieht in einem Zweig frühjüdischer Endzeiterwartung, dessen Bedeutung unterschiedlich eingeschätzt wird.

Nach Martin Karrer ist eindeutig: »Von einer Dominanz königlich-davidischen Messianismus im 1. Jh. lässt sich … nicht sprechen«. Dagegen rechnet Stefan Schreiber damit, dass die Erwartung eines königlichen Messias stärker ausgeprägt, »die Grundzüge der Gesalbten-Konzeption wohl allgemein bekannt« waren. 

Die differierenden Urteile hängen auch an unterschiedlichen Zuspitzungen des Befundes. So sieht auch Karrer, dass ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. Belege für die Erwartung eines herrscherlichen Gesalbten zu finden sind. Er betont freilich den fehlenden Bezug auf David (äthHen 52,4; 4Esra 12,31-34 [der Bezug auf den »Samen Davids« in 12,32 ist textlich nicht gesichert]; 13; syrBar 29-30; 39-40; 70/72-73), außerdem, dass der Königstitel in diesen Schriften nicht belegt sei, sondern auf die ältere Schrift PsSal (17) beschränkt bleibe.

Stefan Schreiber argumentiert mit Blick auf die Funktion eines erwarteten herrscherlichen Gesalbten und rekonstruiert so einen »Vorstellungskern«, der auf breiterer Basis ruht. Zu ihm gehören (1) der Messias als königliche Herrschergestalt im politischen Sinn, die (2) als Repräsentant Gottes an dessen Macht partizipiert, (3) als Erfüllung ergangener Verheißung verstanden wird und (4) Gottes Gerechtigkeit durchsetzt und ein Friedensreich für Israel errichtet.

Dass auch andere Formen der Messias-Erwartung bezeugt sind, ist im Rahmen des zuletzt genannten Konzepts den Variationen zuzuordnen, die sich an das Grundgerüst anlagern können. Karrer deutet sie als Beleg für die grundsätzliche Vielfalt der Messias-Traditionen, die eine Dominanz der königlich-davidischen Linie nicht bezeugten.

 

II. Weitere endzeitliche Gesalbten-Traditionen

Belegt ist die Ausrichtung auf einen gesalbten Hohenpriester (TestRub 6,8), in Qumran als »Messias Aarons« bezeichnet, der neben dem »Messias Israels« auftreten wird (1QS IX,10f), in der Damaskusschrift möglicherweise als eine messianische Gestalt verstanden: der »Messias Aarons und Israels«.

In 11QMelch II,18 ist die Rede von einem »Gesalbten des Geistes«, im Zusammenhang der Auslegung von Jes 52,7 und mit Bezug auf Jes 61,1f; Dan 9,25. Hier könnte also die Erwartung eines gesalbten Propheten am Ende der Zeit bezeugt sein.

In einem Text aus Qumran (4Q521) ist vor der Beschreibung der Heilszeit die Verheißung zu lesen, Himmel und Erde würden auf »seinen Gesalbten« hören – ohne nähere Charakterisierung (möglich auch: »seine Gesalbten«). Karrer erkennt hier ein Zeugnis der Konzentration der Heilserwartung im Gesalbten-Titel vorliegen. »Im Gesalbten begegnet je eine zentrale eschatologische Gestalt; in welcher Weise bleibt der Entfaltung anheimgestellt«.

Neutestamentlich spiegelt sich diese Vielfalt insofern, als sich in Mk 12,35-37parr eine Überlieferung erhalten hat, die eine Verbindung des Messias mit der Davids-Linie abstreitet.

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Die Apokalyptik

Literatur

  • Hahn, F. Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (BThSt 36), Neukirchen-Vluyn 1998.
  • Müller, K., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik (SBAB 11), Stuttgart 1991.
  • Tilly, M., Apokalyptik, Tübingen 2012. 

Begriff und Grundgedanken

Inhaltsverzeichnis

I. Zum Begriff

Der Begriff »Apokalyptik« dient zur Bezeichnung einer religiösen Strömung im Judentum, nachweisbar etwa für die Zeit zwischen 250 v. und 250 n.Chr. Sie berief sich auf besondere Offenbarungen, durch die man Kenntnis vom nahe bevorstehenden Weltende erlangte.

 

II. Grundgedanken der Apokalyptik

 

Die zwei Äonen

Apokalyptisches Denken ist grundsätzlich endzeitlich bestimmt, bricht aber mit der heilsgeschichtlichen Vergangenheit: keine Anknüpfung an Größen wie dem Bund, dem idealen König oder dem Exodus, um die Hoffnung auf Heil zu begründen.

Gegenüberstellung der zwei Äonen (=Welt, Weltzeit). Die bestehende Welt (»dieser Äon«) ist von den Mächten des Bösen beherrscht und wird einer neuen Welt (dem »kommenden Äon«) weichen.

 

Die »endzeitlichen Wehen«

Den Ablauf der Endereignisse schildern die Apokalyptiker als Zeit zunehmender Katastrophen, verstanden als die »Wehen«, in denen sich die »Geburt« der neuen Welt ankündigt.

Hinter dem Konzept der endzeitlichen Wehen lässt sich ein grundsätzlicher theologischer Gedanke entdecken: Erlösung kommt nicht aus der menschlichen Geschichte, sondern ist allein von Gott gewirkt.

 

Die Naherwartung

Diese zeitliche Perspektive kann bisweilen etwas undeutlich bleiben, gewöhnlich ist sie klar erkennbar (z.B. Dan 11,21-12,4; äthHen 93,9f).

 

Auferstehung der Toten zu Heil und Gericht

Die Vorstellung von der Totenauferstehung wurde erweitert: Zunächst dachte man nur an die Auferstehung der Gerechten, die am ewigen Heil Anteil erlangen sollten; zum universal ergehenden Gericht werden aber alle Menschen auferweckt, um sich vor Gott als dem Richter zu verantworten und den endgültigen Richtspruch zu erfahren.

Mit der Ausweitung auf alle Menschen geht auch eine Individualisierung des Gerichtsgedanken einher: Jeder Einzelne muss sich vor Gott verantworten, die Größe »Israel« trägt nicht mehr (z.B. äthHen 103,2-4; 104,1f).

 

Engel und Dämonen

Völkerengel gelten als Gegenstück zu irdischen Herrschern und Machthabern. Der Geschichtsverlauf auf Erden steht in Zusammenhang mit einem unsichtbaren himmlischen Geschehen, das den Abläufen auf der Erde vorausgeht und diese bestimmt.

Eine weitere Funktion der Engel ist Stärkung und Schutz der Gerechten (äthHen 100,5), dann auch Fürbitte für die Gerechten (äthHen 47,2; TestLevi 5,6f; TestDan 6,2) und Deutung der von den Sehern geschauten Ereignisse sowie Begleitung und Führung bei »Himmelsreisen«.

Böse Geister und gottfeindliche Engel gelten als Nachkommen der Göttersöhne aus Gen 6,1-4. Im Rahmen des monotheistischen Gottesbekenntnisses können sie kein gleichrangiges böses Prinzip darstellen: Sie agieren unter der Maßgabe von Gottes Geschichtsplan.

Die starke Ausprägung der Engelvorstellung in der Apokalyptik gründet wohl in der Betonung der Transzendenz Gottes. So wurden Mittlerwesen zwischen der göttlichen und menschlichen Welt wichtig.

 

Der Menschensohn

In Dan 7, dem literarisch ältesten Beleg, steht der in der Vision erscheinende Menschensohn für das Volk Israel. Das Augenmerk liegt auf dem Empfang der Herrschaft, nicht auf richterlichen Funktionen.

Dagegen erscheint der Menschensohn in äthHen 46,1-48,7 als eine himmlische Gestalt, die schließlich als endzeitlicher Richter und Retter fungiert. Diese Gestalt kann aber auch mehr irdische Züge gewinnen und mit dem Messias identifiziert werden (48,10).

 

Determinismus und Geschichtsverlust?

In Apokalypsen kann der Gedanke der Vorherbestimmung jeglichen Geschehens durch Gott stark betont sein. Deshalb wird nicht selten geurteilt, die Geschichte und das menschliche Handeln in ihr habe nach der apokalyptischen Weltsicht keine wirkliche Bedeutung.

Aber: es gibt auch Verbindungen zwischen altem und neuem Äon. Denn der Zugang zum neuen Äon hängt ab von der Bewährung in der Geschichte vor dem Ende. Die Verantwortung des Menschen wird nicht negiert, von der Vorherbestimmung des Einzelnen für Heil oder Unheil ist nirgends die Rede. Die Apokalyptik stellt Gottes Plan und menschliche Eigenmächtigkeit nebeneinander.

Literarischer Charakter von Apokalypsen

Inhaltsverzeichnis

I. Offenbarungsempfang in Visionen

In den Apokalypsen geht es um die Zukunft der Welt unter Gottes Führung. Das Wissen um diese Zukunft erwächst aus einer geheimen Offenbarung, meist geschildert als Vision (selten nur als Audition, also als Hörerlebnis).
Die Vision kann gestaltet sein als Traumgesicht, als ekstatische Vision in wachem Zustand oder in Gestalt einer Entrückung. Oft werden stark verschlüsselte Bilder verwendet, die erst durch einen Engel oder in einem Zwiegespräch mit Gott geklärt werden (vgl. z.B. Dan 7).

Auch Zahlensymbolik spielt eine große Rolle: die heilige Zahl 7 (auch ihr Vielfaches: 70, 7000), 12 (mit Bezug auf die 12 Stämme; grundlegend auch auf die Gestirne) oder 31/2 als Hälfte von 7, um eine kurze Frist anzuzeigen (auch verschlüsselt etwa in Offb 11,2.3).

 

II. Pseudonyme Abfassung

Ein großer Frommer aus der Vergangenheit Israels wird als Autor vorgestellt (Henoch, Abraham, Mose usw.). Er hat eine Offenbarung empfangen, die sich auf die Endzeit richtet, aber auch einen Überblick über den Geschichtsverlauf bietet. Was als Weissagung künftigen Geschehens erscheint (durch den fiktiven Verfasser), ist in Wahrheit ein Rückblick auf bereits erfolgte Ereignisse (durch den wirklichen Autor): vaticinium ex eventu*.

Es geht dabei nicht nur darum, die Zuverlässigkeit der Vision zu unterstützen. Mit Karlheinz Müller ist eine innere Verbindung zu apokalyptischen Grundgedanken zu erkennen: Die ganze Geschichte ist vom Ende aus zu betrachten. Sie steht unter dem Negativ- Urteil, dass sie nicht zum Heil führt, und dies wird unterstrichen, wenn die Vision nicht nur wirkliche Zukunft, sondern auch die ganze Vergangenheit in den Blick nimmt.

 

III. Paränesen und Gebete

Mahnungen zum rechten Verhalten und Gebete sind zwei wichtige Stilelemente von Apokalypsen.

Herkunft, Trägerkreise, Auswirkung

Inhaltsverzeichnis

I. Zur Herkunft der apokalyptischen Gedankenwelt

Kann die Apokalyptik als Fortsetzung und Weiterentwicklung von bestimmten Traditionslinien im AT verstanden werden?
Auf die Prophetie deuten folgende Gemeinsamkeiten:
Hinwendung zum Kommenden / für die jeweilige Zeit aktuelle Botschaft / Gedanke der Erhabenheit, Heiligkeit und Überweltlichkeit Gottes / Visionen (Ezechiel / apokalyptisch gefärbte prophetische Texte.

Zwar lassen sich weisheitliche Motive in den Apokalypsen finden, aber keine Eschatologie und Naherwartung in der Weisheitsliteratur. Dies spricht gegen die Einschätzung, dass die Weisheit der Mutterboden der Apokalyptik ist.

Die Verbindung zur Prophetie bedeutet aber nicht, dass sich die Apokalyptik organisch aus der Prophetie entwickelt hätte. Man muss wohl mit schockartigen Vorgängen rechnen, die erklären können, warum man sich in der Apokalyptik derart konsequent auf die analogielose zukünftige Welt Gottes ausgerichtet hat (Karlheinz Müller).

  • Diese Vorgänge sind in der kompromisslosen Machtpolitik des Seleukidenreiches zu suchen, die alle Hoffnung auf nationale Befreiung zunichte machte. Es blieb nur die Hoffnung auf ein Eingreifen Gottes. Entsprechend spielen Visionen von Herrschaft eine bedeutende Rolle in der Apokalyptik.

 

II. Zur Frage der Trägerkreise

Eine genaue soziologische Verortung der Apokalyptik ist nicht möglich. Eine Opposition zur Priesterschaft wird in den Texten nicht deutlich.

Die Qumran-Rollen konnten diese Lücke nicht füllen, da sie im Verhältnis zur Apokalyptik ein zwiespältiges Bild bieten.

  • Man hat in den Höhlen bei Qumran Texte gefunden, die Verbindungslinien zur Apokalyptik aufweisen, auch Fragmente von Apokalypsen.
  • Doch fehlen etwa in der Henoch-Literatur gerade die apokalyptisch geprägten Partien. Außerdem weisen die gruppeneigenen Schriften auch Unterschiede zur Apokalyptik auf.

Die Gruppe hinter den Qumran-Schriften kann also nicht die entscheidenden Träger apokalyptischer Traditionen sein.

 

III. Apokalyptik und Urchristentum

Die urchristliche Zukunftshoffnung war zweifellos von apokalyptischem Gedankengut geprägt. So finden sich in Mk 13parr zahlreiche apokalyptischen Motive (z.B. Kriege, Erdbeben, Hungersnöte als »endzeitliche Wehen«), bis hin zum Kommen des Menschensohns. Apokalyptische Gedanken konnten aber nur in christologischer Interpretation übernommen werden.

►Entscheidender Unterschied: die Überzeugung, dass in Tod und Auferstehung Jesu die Erlösung bereits erfolgt ist. Alter und neuer Äon sind nicht streng voneinander getrennt; der neue Äon ragt schon in den alten hinein.

Am deutlichsten zeigt sich der Einfluss der Apokalyptik auf das neutestamentliche Schrifttum in der Offenbarung des Johannes (siehe hier). Anders als bei frühjüdischen Apokalypsen verbirgt sich der Autor aber nicht hinter einer Größe der Vergangenheit und bietet auch keine (als Zukunftsvision ausgegebene) Rückschau auf den Geschichtsverlauf.

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