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Das Problem und seine Geschichte

Zur Frage nach dem »historischen Jesus« gehört grundlegend die Wahrnehmung einer Differenz. Es geht um Jesus, wie er aufgrund historischer Rekonstruktion erscheint – ein solches Bild unterscheidet sich vom Jesus der Evangelien wie auch von dem, was die christliche Dogmatik über Jesus sagt.

Die Wahrnehmung dieser Differenz ist nicht selbstverständlich. So lange man davon ausging, dass das Neue Testament und der Glaube der Kirche zuverlässig Auskunft geben über Leben und Lehre des Jesus von Nazaret, gab es auch keine historische Rückfrage nach Jesus. Jahrhundertelang sah man in den Evangelien Geschichtsberichte und ging auch von der völligen Übereinstimmung zwischen geschichtlichem Jesus und dem Christus des Glaubens aus. Erst als das Vertrauen in die kirchliche Tradition und die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien zerbrochen war, konnte das Problem der Rückfrage nach dem historischen Jesus entstehen. Dies geschah erstmals im Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert.

Inhaltsverzeichnis

Von Reimarus über Schweitzer bis Käsemann

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I. Von Reimarus bis Schweitzer

Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung begann mit Hermann Samuel Reimarus, dessen Werk von G.E. Lessing 1774–78 herausgegeben wurde – als »Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten«. Reimarus unterschied prinzipiell zwischen der Lehre Jesu und der Apostel. Jesus habe keine hohen Glaubenslehren gepredigt, sondern in Übereinstimmung mit den damaligen religiösen Überzeugungen des Judentums vor allem Moral verkündet sowie das Kommen eines messianisch-politischen Reiches.

 

Die liberale Leben-Jesu-Forschung

Dagegen wollte die liberale Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts den Glauben an Jesus Christus durch historische Jesusforschung neu begründen. Man suchte nach den Quellen für die Geschichte Jesu, um diese objektiv, wie man meinte, zu rekonstruieren. Tatsächlich wurde das Jesusbild eher nach dem Persönlichkeitsídeal des jeweiligen Forschers gestaltet. Die Lücken, die die Quellen ließen, wurden aktualisiert entsprechend den Moralvorstellungen des 19. Jh.s.

 

David Friedrich Strauß

Eine Sonderstellung in der Jesusforschung des 19. Jahrhunderts nimmt David Friedrich Strauß ein, der 1835/36 ein zweibändiges »Leben Jesu« – Buch veröffentlichte. Bedeutsam ist sein Werk vor allem durch eine neue Auslegung der neutestamentlichen Wundergeschichten. Strauß wandte sich gegen die rationalistische Wunderdeutung, die alles Wunderbare aus den Erzählungen eliminierte und etwa die Geschichte vom Seewandel Jesu auf eine optische Täuschung der Jünger zurückführte. Strauß dagegen verstand in seiner mythischen Deutung die Wundergeschichten als erzählerischen Ausdruck von Ideen, die in der menschlichen Vernunft begründet waren. Der Glaube an Christus ist letztlich zurückzuführen auf die Idee, die die menschliche Vernunft vom Verhältnis des Menschen zu Gott hat.

 

Albert Schweitzer

Bei der Suche nach den ältesten Quellen wurden im Zuge der liberalen Leben-Jesu-Forschung wichtige Einsichten gewonnen, auf denen die Zwei-Quellen-Theorie fußt. Die Überforderung dieser Quellen in dieser Forschungsphase hat allerdings Albert Schweitzer in seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« aufgezeigt. Sein vielzitiertes Fazit lautet:

»Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück« (Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 21913, 631).

 

II. Abkehr von der historischen Rückfrage nach Jesus: Formgeschichte

Forschungsgeschichtlich ergab sich in der Folge die Abwendung von der historischen Rückfrage nach Jesus. In der Methode der Formgeschichte, die sich nach dem 1. Weltkrieg in der neutestamentlichen Forschung entwickelte und durchsetzte, wurde der Charakter dieser Quellen näher untersucht, und man erkannte: Die Evangelien gehen zurück auf eine schon theologisch geprägte mündliche Überlieferung. Ihr ging es nicht um zuverlässige Sicherung historischer Fakten, sondern um den Glauben an Jesus Christus in den verschiedenen Bereichen des Gemeindelebens: Mission, Liturgie, Katechese usw.

 

III. Die »Neue Frage nach dem historischen Jesus«

Die Jesusfrage ließ sich aber nicht dauerhaft ausblenden. In den 1950er Jahren kam die Reaktion auf die Abwendung vom Jesus der Geschichte mit der so genannten »Neuen Frage nach dem historischen Jesus«, die von Ernst Käsemann angestoßen wurde. Neu war diese Frage insofern, als man sie nun unter Berücksichtigung der Erkenntnisse stellen wollte, die in der bisherigen Forschung gewonnen wurden – vor allem der Formgeschichte. Man versuchte nun also nicht mehr, ein Leben Jesu (im Sinne einer Biographie) zu schreiben; aber man glaubte doch, wesentliche Elemente der Verkündigung Jesu rekonstruieren zu können. Man hielt es nun für möglich und geboten, durch den Glauben der Gemeinde hindurch zum historischen Jesus vorzustoßen.

Third quest – die dritte Runde

In der neueren Zeit hat sich in der Literatur zur Jesusforschung die Kategorie einer dritten Runde der Rückfrage (third quest) etabliert, die sich von der »neuen Frage« absetzt. Als Kennzeichen dieser jüngsten Forschungsphase werden genannt:

  • Die Loslösung der Jesusforschung von theologischen Fragen: Es geht nicht mehr darum, das Bekenntnis zu Jesus Christus in irgendeiner Form beim geschichtlichen Jesus zu begründen.
  • Die Einbeziehung sozialgeschichtlicher und Öffnung für interdisziplinäre Fragen.
  • Die Einordnung Jesu in das Judentum.
  • Die Erweiterung und Verfeinerung der Quellenbasis

    mit der Berücksichtigung auch nicht-kanonischer Quellen.
  • Der Abschied vom Differenzkriterium als methodischer Grundlage der Rückfrage.

Ob tatsächlich ein derart kennzeichnender Einschnitt erreicht ist, dass man von einer neuen forschungsgeschichtlichen Phase sprechen kann, ist nicht ganz so sicher wie meist behauptet. Zweifellos hat die Jesusforschung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wichtige neue Impulse erhalten; die grundlegenden Einsichten der »neuen Frage« sind aber nicht überholt.

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Der »erinnerte Jesus«

Die jüngste Entwicklung in der Jesusforschung lässt sich mit dem Begriff der Erinnerung erfassen. In den Jesuserzählungen der Evangelien eröffne sich der Zugang zur geschichtlichen Größe Jesus von Nazaret. Es sei nicht hinter die Texte zurückzufragen nach dem »historischen Jesus«, sondern der in den Quellen erkennbare »erinnerte Jesus« zu erheben. Damit wird die überlieferungsgeschichtlich orientierte Jesusforschung verabschiedet: Leitend ist nicht die Erhebung ursprünglicher Schichten durch die Anwendung von Literarkritik und Rückfragekriterien, vielmehr seien die Evangelien als Geschichtserzählungen und -konstruktionen ernst zu nehmen.

Was allerdings genau an die Stelle des überlieferungsgeschichtlichen Modells mit der kriteriengeleiteten Rückfrage treten könnte, zeichnet sich noch nicht ab. In den Veröffentlichungen der beiden Protagonisten des Erinnerungskonzepts, Jens Schröter und James Dunn, wird die Jesus-Erinnerung der Evangelien nicht unterschiedslos als historisch zutreffend beurteilt: Eine Erzählung wie die von der Münze im Fischmaul (Mt 17,24-27) habe einen anderen Referenzmodus als etwa die Jesusworte der Bergpredigt (Schröter). Wie dies im Rahmen des Erinnerungs-Paradigmas methodisch abgesichert werden kann, ist derzeit noch nicht zu erkennen.

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