Amos und Amazja
1. Kontext
Am 7,10–17 berichtet von der Begegnung zwischen Amos und Amazja und findet sich im Kontext des Visionszyklus Am 7,1–9,6. Der Teil Am 7,10–17 unterbricht dabei den Ich-Bericht des Visionszyklus zwischen der dritten und vierten Vision durch einen Bericht der dritten Person. Die Textpassage 7,10–17 erhält aus diesem Grund oft die Überschrift „Fremdbericht“, welche jedoch irreführend ist, da es sich nicht rein um einen Bericht aus der Perspektive Außenstehender handelt, sondern vielmehr um aneinandergereihte wörtliche Reden, welche durch erzählende Teile eingeleitet werden.
2. Gliederung
Die Textstelle lässt sich grob in zwei Teile untergliedern. Am 7,10–11 berichtet davon, wie Amazja Boten zu Jerobeam II. sendet, um ihn von Amos’ Unheilsprophetie in Kenntnis zu setzen und sie aufgrund des erwarteten Schadens für das Königreich anzuklagen. Der zweite Teil, der inhaltlich eine Leerstelle lässt und nicht direkt an V. 11 anknüpft (eine Reaktion Jerobeams bleibt aus), berichtet von einer Auseinandersetzung zwischen Amos und Amazja in Bet-El.
- Am 7,10–11 Beschuldigung des Amos durch Amazja bei König Jerobeam
- Am 7,12–17 Auseinandersetzung zwischen Amazja und Amos
- 7,12‒13 Landesverweis des Amos durch Amazja
- 7,14‒15 Amos’ Antwort
- 7,16‒17 Amos’ Ankündigung von Gottes Gerichtsurteil über Amazja
3. Erläuterungen
3.1 Am 7,10-11
Mit V. 10 wird der Ich-Bericht des Visionszyklus unterbrochen. In der neutralen Erzählperspektive berichtet der Vers davon, dass Amazja, ein Priester in Bet-El, Boten zu König Jerobeam sendet, um über das Auftreten des Amos zu berichten, das er als Verschwörung und „unerträglich für das Land“ (Am 7,10) interpretiert.
V. 11 führt diese Interpretation des Amazja weiter aus, insofern die Worte des Amos, die in V. 10 bereits als unerträglich vorgestellt wurden, nun als Beweis angeführt werden: „Denn so sagt Amos: Jerobeam stirbt durch das Schwert und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden“ (Am 7,11). Mit den negativen Vorhersagen des Todes Jerobeams II., des Exils des Volkes und damit auch des Untergangs des Nordreiches kritisiert Amos die bestehende Politik sowie auch das Volk und bildet damit eine Opposition zum König, was hier als politisch schwächend verstanden wird. Auffällig ist an dieser Stelle, dass Amazja die von Amos benannten Schuldaufweise hinsichtlich des kultischen und sozialen Fehlverhaltens des Volkes nicht nennt. Wie Jerobeam II. auf diesen Bericht reagiert und welche Konsequenzen er daraus zieht, wird im Text nicht benannt. Es bleibt damit eine Leerstelle im Anschluss an V. 11.
3.2 Am 7,12-17
Mit den VV. 12–17 wird nun die Begegnung zwischen Amos und Amazja am Königsheiligtum in Bet-El beschrieben (vgl. Bet-El als von Jerobeam I. gegründetes Königsheiligtum in 1 Kön 12,26–31). Die Begegnung beginnt mit einer Aufforderung Amazjas: „Seher, geh, flieh ins Land Juda! Iss dort dein Brot und prophezeie dort!“ (7,12). Die Aufforderung zur Flucht nach Juda wird dabei durch zwei weitere Aufforderungen konkretisiert, die an eine Verbindung von Prophetie und täglichem Brot denken lassen, und somit an eine vom König abhängige Hofprophetie erinnern. Vermutlich wird Amos von Amazja als ein vom König abhängiger Hofprophet verstanden, der aufgrund seiner Unheilsprophetie, die der Politik des Königs nicht zuträglich ist, nun eine neue Anstellung braucht.
V. 13 unterstreicht dies, indem Amos die Prophezeiungen in Bet-El untersagt werden. Die dafür angeführte Begründung „denn das hier ist das königliche Heiligtum und der Reichstempel“ (7,13) verdeutlicht, dass Amos’ Botschaft dem König und dem Nordreich widerstrebt. Als Hofprophet mit einer solchen Botschaft muss Amos daher konsequenterweise das Heiligtum verlassen und darf auch nicht mehr im Nordreich prophezeien.
Die VV. 14–17 stellen die Antwort des Amos dar und veranschaulichen sein prophetisches Selbstverständnis. Die Antwort des Amos zeigt in V. 14 zunächst auf, dass er eben kein vom König abhängiger Hofprophet ist: „Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehhirte und veredle Maulbeerfeigen“ (7,14). Der erste Teil macht genau diese Unabhängigkeit deutlich: Amos ist weder als Prophet noch als ein von seinem Lehrer anhängiger Prophetenschüler zu verstehen. In seinen Unheilsankündigungen und Schuldaufweisen ist er vielmehr derjenige, durch den Gott zu seinem Volk spricht, was auch durch V. 15 deutlich wird. So ist es folglich Gott, der die Kult- und Sozialkritik äußert und durch den Propheten zu einer Umkehr zu besseren und gerechteren Lebensweise führen will. Der zweite Teil des Satzes macht deutlich, dass Amos in seiner prophetischen Funktion weder vom König noch von sonst einem Menschen abhängig ist. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt durch seine Tätigkeiten als Viehhirte und die Veredelung von Maulbeerfeigen. Die Berufsangaben stehen dabei in einem Widerspruch zu Am 1,1, wo Amos lediglich als „Schafhirte aus Tekoa“ (Am 1,1) charakterisiert wird. Die genaue Profession des Amos bleibt also etwas unklar.
V. 15 knüpft zugleich aber an den Topos des Viehhirten an, insofern die Berufung des Amos durch YHWH als eine Wegnahme von der Herde beschrieben wird: „Aber der HERR hat mich hinter meiner Herde weggenommen und zu mir gesagt: Geh und prophezeie meinem Volk Israel!“ (7,15) Die Berufung des Amos wird damit analog zu der Berufung des David (vgl. 1 Sam 16,11) und der Berufung des Mose (vgl. Ex 3,1) geschildert, welche ebenso durch eine Berufung YHWHs von ihrer Herde weggenommen wurden. Das zitierte Gotteswort „Geh und prophezeie meinem Volk Israel!“ (7,15) unterstreicht zudem, dass Amos weder seine Botschaft dem Volk Israel gegenüber verändern noch an einem anderen Ort prophezeien muss, wie das Amazja in 7,12 aufgetragen hatte.
Die VV. 16–17 verdeutlichen die Unabhängigkeit der Prophetie des Amos, die sich nun im Anschluss in einer Unheilsankündigung gegenüber Amazja zeigt. Zunächst wird die kommende Unheilsankündigung in V. 16 durch das „Wort des HERRN“ (7,16) begründet. Ausschlaggebend für diese Ankündigung ist die Aufforderung Amazjas, die Prophetie im und gegen das Nordreich zu unterlassen. Diese Aufforderung wird hier als Art eines direkten Schuldaufweises zitiert: „Du sagst“ (7,16). Im Anschluss daran findet sich schließlich die konkrete Unheilsankündigung, welche mittels der Botenspruchformel eingeleitet wird und damit kenntlich macht, dass Amos die Worte Gottes verkündet. Die umfangreiche Strafe trifft Amazja dabei in aller Härte: „Deine Frau wird zur Hure in der Stadt, deine Söhne und Töchter fallen unter dem Schwert, dein Boden wird mit der Messschnur verteilt, du selbst stirbst auf unreinem Boden und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden“ (7,17). So wird die Botschaft, die Amazja vor Jerobeam II. beklagte, wiederholt, indem der Tod unter dem Schwert und das Exil angekündigt werden (vgl. 7,17; ebenso in 7,11). Zugleich wird Amazja der Tod auf fremdem, unreinen Land und damit im Exil vorhergesagt, was für ihn als Priester eine besonders schwere Strafe darstellt, da die Reinheit für ihn existentiell wichtig ist.
Amazja trifft das Unheil an dieser Stelle exemplarisch, insofern seine Auseinandersetzung mit Amos einen Konflikt auf einer höheren Ebene widerspiegelt: Es geht um den Konflikt zwischen dem König, dem Herr des Amazja, und YHWH, dem Herr des Amos. Der Konflikt gewinnt seine Brisanz dadurch, dass Jerobeam II. als König und infolgedessen auch Amazja, als Priester am Staatsheiligtum, im Dienste YHWHs stehen. Jedoch erfüllen sie diesen Dienst nicht, sondern handeln gerade gegen YHWH, indem sie seine durch Amos vermittelten Worte nicht erkennen und ihn sogar zum Schweigen bringen wollen. Aufgrund dieses Umstandes muss YHWH nun handeln, was die Unheilsankündigung am Ende, die keinen Ausweg mehr miteinschließt, verdeutlicht. Das in Am 7,17 angekündigte Unheil ist damit nicht nur personal zu verstehen, sondern dynastisch, denn es trifft die Herrscher.
4. Fazit
Die Auseinandersetzung zwischen Amos und Amazja in Am 7,10–17 verfolgt auf literarischer und theologischer Ebene drei Funktionen:
Erstens: Die prophetische Rolle des Amos wird durch die Erzählung präsentiert und seine Unabhängigkeit von weltlichen Mächten dabei herausgestellt. Es wird deutlich, dass Amos nur gegenüber YHWH in einer Verantwortung steht, indem er dessen Worte an die Menschen weitergibt. Dies zeigt sich auch in seinem Selbstverständnis: Amos ist unabhängig und hält am Wort Gottes fest, auch wenn dies Widerstand gegenüber den weltlichen Mächten bedeutet. Er entspricht damit dem Bild der biblischen Propheten YHWHs.
Zweitens wird durch die Herausstellung der prophetischen Rolle des Amos auch dessen Legitimation deutlich. Amos’ Worte erfahren ihre Legitimität durch ihren eigentlichen Sprecher YHWH, der auch den weltlichen Herrschern übergeordnet ist.
Drittens soll mittels Am 7,10–17 erklärt werden, wie es zur tatsächlichen Umsetzung der Unheilsankündigung kommt: YHWHs Stimme, durch Amos vermittelt, wird im Nordreich nicht erkannt, sondern es wird versucht, diese zum Schweigen zu bringen. Dieses Vergehen wird im Folgenden durch den Untergang des Nordreiches und das Exil bestraft.
5. Quellen
- Beck, Eleonore, Gottes Traum: Eine menschliche Welt. Hosea – Amos – Micha, Stuttgart 21987 (SKK.AT 14).
- Dahmen, Ulrich / Fleischer, Gunther, Die Bücher Joel und Amos, Stuttgart 2001 (NSKAT 23/2).
- Höffken, Peter, Amos / Amosbuch, in: WibiLex online (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/10045) [zuletzt besucht am 16.10.2023].
- Zenger, Erich, Das Amosbuch, in: Zenger, Erich / Frevel, Christian u. a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1/1), Stuttgart 9. Aufl. 2016, 649–660.
Erstellt von Katharina Neu, 2023