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Ps 23

Der HERR ist mein Hirt

  1. Kontexteinordnung
  2. Gliederung
  3. Strukturbeschreibung
  4. Einzelerläuterungen
  5. Paralleltexte
  6. Quellen

1. Kontexteinordnung

Die positiv-vertrauensvolle Grundstimmung des Psalms und die Aussage tiefer Zuversicht verwundern zunächst, wenn man die Gesamtstruktur des Psalters mit seiner Bewegung von der Klage zum Lob berücksichtigt. Die Verortung des Psalms im ersten Psalmenbuch würde anstelle dieses berühmten Vertrauensgebets eher eine Klage erwarten lassen. Die Position von Psalm 23 lässt sich jedoch am besten im Verhältnis zu seinem Nachbarpsalm 22 erklären. Als ebenso bekannter und prototypischer Klagepsalm steht er dem Vertrauenspsalm 23 direkt gegenüber (sog. Iuxtapositio). Psalm 23 führt somit die in Psalm 22 anklingenden Themen weiter und führt die Klage in eine hoffnungsvolle Zuversicht über. So kann Ps 23 als Einlösung des in Ps 22,23 angekündigten Lobs des Namens JHWHs gelesen werden. Zudem wird das sättigende Mahl der Armen, das in Ps 22,27 in Aussicht gestellt wird, in Ps 23,5f. erfüllt. Im Rückblick auf Psalm 22 kann wiederum das betende Ich von Psalm 23 präzisiert werden: Es handelt sich um „die Armen und die Gerechten als Repräsentanten des wahren Israel“ (Hossfeld/Zenger, 153) und um all jene, die zur Völkerwallfahrt aufbrechen (Ps 22,28-32).

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2. Gliederung

1a         Überschrift
1b-4      JHWH als Hirte
   1b-3        Bekenntnis zu JHWH (er-ich)
   4              Vertrauen auf JHWH (ich-du)
5-6           JHWH als Gastgeber
   5              Vertrauen auf JHWH (du-ich)
6              Bekenntnis zu JHWH (ich-er)

3. Strukturbeschreibung

chiastischparalleldynamisch
wechselnde Sprechrichtungen:
1b-3        Bekenntnis/Zeugnis (er-ich) 4             Vertrauensgebet (ich-du)
5             Vertrauensgebet (du-ich) 6             Bekenntnis/Zeugnis (ich-er)  
Bilder:
1-4 JHWH als Hirte   
5 JHWH als Gastgeber  
Insgesamt fortschreitende Bewegung, die am Schluss zur Ruhe kommt: Unterwegssein – Gefahren – Ankunft – fortwährendes Bleiben

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Die Struktur von Psalm 23 ist vielschichtig und komplex, sodass je nach sprachlicher Ebene unterschiedliche Gliederungsschemata ausgemacht werden können. Hinsichtlich der Sprechrichtungen ist Psalm 23 doppelt chiastisch aufgebaut. Den Rahmen bildet je ein Bekenntnis/Zeugnis, bei dem das Verhältnis von Beter zu Gott in erster und dritter Person geschildert ist. Während im ersten Bekenntnis Gott das handelnde Subjekt darstellt, das gnädig am Beter handelt, wird im Bekenntnis am Ende des Psalms der Beter als Subjekt aktiv, indem er seinen festen Glauben an Gottes Beistand äußert. Innerhalb des bekennenden Rahmens finden sich zwei Vertrauensaussagen, die durch das Personenverhältnis von erster und zweiter Person eine engere Beziehung schaffen und sich wiederum in der Wahl des Subjekts gegenüberstehen. In Vers 4 spricht das betende Ich sein Vertrauen gegenüber dem Du Gottes aus, während in Vers 5 das Du Gottes als Gastgeber gepriesen wird. Der Wechsel der Subjekte bewirkt zudem ein Fließen von einer Person zur nächsten (er-ich / ich-du / du-ich / ich-er), welches die insgesamt fortschreitende Bewegung des Psalms sprachlich begleitet.

Betrachtet man die Themen und die Bildwelt des Psalms, so ergeben sich zwei parallele Abschnitte, die das Verhältnis des Beters zu Gott metaphorisch beschreiben. Die erste Hälfte des Psalms (V. 1-4) stellt JHWH im Bild des Hirten dar, wobei auch Traditionen aus der Exodus-Erfahrung begrifflich Anklang finden. Die Motive zeichnen ein Bild der Fülle und des Heils, in denen der Beter seine Zuflucht und Geborgenheit bei Gott ausdrückt, die wiederum in der vertrauensvollen Führung durch Gott gründen. In der zweiten Hälfte (V. 5-6) tritt JHWH als Gastgeber auf. In dieser Metapher kommen Schutz, Fürsorge und Heimat zur Sprache. Beide Metaphern illustrieren die Lebenswirklichkeit des Beters, die von einer tiefen Vertrauensbeziehung zu Gott geprägt ist, indem durch Bildwelten Eigenschaften Gottes beschrieben werden. Sie akzentuieren Fürsorge und Geborgenheit.

Fasst man schließlich den Psalm sowohl formal als auch bildlich als Ganzes ins Auge, so lässt sich seine dynamische Struktur erkennen: Der Psalm weist insgesamt eine fortschreitende Bewegung auf, die am Schluss zur Ruhe kommt. Vom Ausgangspunkt der Ruhe, die im ersten Bekenntnisvers (V. 1b) ausgedrückt ist, macht sich der Beter mit Gott als seinem Hirten auf den Weg (V. 2f.). Während des Unterwegsseins können auch Gefahren auftreten (V. 4f.: finsteres Tal, Feinde). Schließlich kommt der Beter bei Gott als seinem Gastgeber an und feiert Gemeinschaft mit ihm, bis er im „Haus des Herrn“ (V. 6) Heimat findet und die Bewegung des Psalms im dort fortwährenden Bleiben zur Ruhe kommt.

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4. Einzelerläuterungen

Nach der Psalmenüberschrift, die den Psalm David zuschreibt (V. 1a), folgt das Statement mit dem Bekenntnis zu JHWH als Hirte des betenden Ich („Der Herr ist mein Hirte“, V. 1b). Die folgenden Verse füllen die Hirtenmetapher mit Inhalten aus der Lebenswelt der israelitischen Kleinviehnomaden. Doch auch der sesshaften Dorfbevölkerung sind diese Motive bekannt, da sie neben Ackerbau auch Kleinviehhaltung (Schafe und Ziegen) betreiben. Weideplätze und Wasserstellen sind jeweils im Plural genannt, womit die Fülle und der Reichtum der Versorgung akzentuiert werden. Auch der Ruheplatz fügt sich in dieses Bild: Die Ruhe versinnbildlicht als Heilsgut die Fülle des Friedens und Heils. In der Beschreibung JHWHs als Hirte finden sich darüber hinaus Begriffe und Motive aus der Exodus-Tradition: Das Verb „führen“ (hebr. nāhāh) findet bei der Führung Israels während des Exodus als terminus technicus Gebrauch (z.B. die wunderbare Führung am Wasser in Ex 15,22f.). Darin spiegeln sich Geleit und Fürsorge Gottes und die Heimholung des auserwählten Volkes in die ihm zustehende Heimat. Das „finstere Tal“, von dem in V. 4 die Rede ist, erinnert an den Schrecken der Wüste (vgl. Jer 2,6), eines Ortes des Todes, da es dort kein Vertrauen gibt (vgl. Dtn 1,19-35). Anders ergeht es dem Beter dieses Psalms: Er hat keine Angst und braucht kein Unheil zu fürchten, da er fest vertraut und auf den Beistand JHWHs setzt (V. 4). Psalm 23 individualisiert also Erfahrungen des Gottesvolks im Bekenntnis eines Frommen, indem Traditionen des ersten Exodus (Israels Weg durch die Wüste) und des zweiten Exodus (Israels Weg heim vom Exil) aufgegriffen und personalisiert werden. Hossfeld/Zenger verweisen auf das Korrespondieren der „Schutzwerkzeuge“ Stock und Stab (V. 4) mit den „Schutzboten“ Güte und Huld (V. 6), die beide Metaphern – JHWH als Hirte und als Gastgeber – unter dem Aspekt von Schutz und Geborgenheit miteinander verbinden. Mit den „Pfaden der Gerechtigkeit“ (V. 3b) ist die von JHWH gesetzte Lebens- und Heilsordnung gemeint, die der Beter in seiner Lebenswirklichkeit umsetzt, indem er sich von Gott leiten lässt. Der Zusatz „getreu seinem Namen“ (V. 3c) verdeutlicht darüber hinaus, dass dieses führende Handeln dem Wesen JHWHs entspricht: In Ex 3,14 hat er sich als der Mit-Seiende zu erkennen gegeben – eine Zusage, durch die sich die Selbstoffenbarung Gottes auch in der Lebensgeschichte des einzelnen Beters ereignen kann. Die zweite Metapher von JHWH als Gastgeber führt die Erfahrung der Lebensermöglichung fort und steigert sie, da nun eine Zuwendung von Angesicht zu Angesicht erfahrbar wird. Mit der Salbung des Gastes (V. 5c) geht eine besondere Ehrerweisung zu Beginn des Gastmahls einher. Zudem drückt sich darin der besondere Schutz des Gastgebers gegenüber seinem Gast aus. Der „übervolle Becher“ (V. 5d) ist Ausdruck des Luxus. Im Gegensatz zur Exodus-Tradition (vgl. Ps 78,19f.) wird hier ein Festmahl gefeiert und der Beter reichlich gespeist. Das Motiv der Fülle findet somit auch im Bild des Gastmahls Gebrauch. Zum Schluss erfährt das Gottesverhältnis des Beters eine weitere Steigerung: Aus dem (einmaligen) Gastmahl wird eine bleibende Tisch- und Schutzgemeinschaft (V. 6), indem der Gast im Haus des Herrn eine dauerhafte Heimat findet. Der Personenwechsel in die erste Person und die Formulierung als Zukunftserwartung markieren einen letzten Einschnitt, der aufgrund der Zuwendung JHWHs als Hirte und Gastgeber eine feste Zuversicht für die Zukunft des Beters ausdrückt. Die Formulierung „für lange Zeiten“ oder wörtlich „für die Länge der Tage“ kann eschatologisch gelesen werden und verlängert somit die Heimat bei Gott über den Tod hinaus. „Für den Menschen, der im ‚Tal der Finsternis‘ sich dem Geleit und der Fürsorge JHWHs überlässt, wird hier eine Gottesheimat sichtbar, deren bergende und beglückende Dauer im Hirten- und Gastgeber-Gott selbst ihr (unendliches) Maß hat“ (Hossfeld/Zenger, 156).

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5. Paralleltexte

  • JHWH als Hirte: Ps 77,21; Ps 78,52f.; Jes 40,11; Ez 34,12
  • Jesus als guter Hirte: Joh 10,11; Mt 18,12-14; Lk 15,4-7
  • Gastgeber-Motiv: Gen 18,1-5; Lk 7,46

6. Quellen

Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Die Psalmen I. Psalm 1-50, Würzburg 1993 (NEB.AT), 152-156.

Erstellt von Marion Bohlender, 2023.