Zum Inhalt springen

Dtn 6,4-9

Das Hauptgebot Schema Israel

  1. Aufbau und Struktur
  2. Syntax und Übersetzungsvarianten des Bekenntnisses (Dtn 6,4b-c)
  3. Gottesbild und Auslegungsgeschichte: Monojahwismus – Monolatrie – Monotheismus
  4. Das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5)
  5. Paränetische Explikation des Hauptgebots (Dtn 6,6-9)
  6. Quellen

1. Aufbau und Struktur

Das Hauptgebot, auch Schema Israel („Höre, Israel!“) genannt, ist eine Kurzformel des Glaubens Israel und drückt ein Grundbekenntnis der jüdischen und christlichen Religion aus. Es umfasst den Imperativ an das Volk (V. 4a), die zentrale Bekenntnisaussage (V. 4b-c) und das Gebot der Gottesliebe (V. 5). Im Textzusammenhang folgt darauf eine paränetische Explikation des Hauptgebots (V. 6-9), die zum rechten Umgang mit diesem Wort anleitet.

  • 4-5        Schema Israel
    • 4a         Imperativ
    • 4b-c      Bekenntnis
    • 5           Gebot der Gottesliebe
  • 6-9        Paränetische Explikation
    • 6           Verpflichtung zu Liebe/Treue
    • 7           Weitergabe und Memorieren
    • 8-9        Sichtbare Erinnerungszeichen

nach oben

2. Syntax und Übersetzungsvarianten des Bekenntnisses (Dtn 6,4b-c)

Im Hebräischen lautet der Bekenntnisteil (v. 4b-c) des Hauptgebots folgendermaßen: JHWH elohenu JHWH äḥad (wörtlich interlinear übertragen: „JHWH unser Gott JHWH einer/einzig“). Die Einheitsübersetzung 2016 gibt den Satz mit „Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig“ wieder und fasst damit das zweite Wort (elohenu „unser Gott“) als Apposition zum Subjekt JHWH (EÜ: HERR), dem ersten Wort, auf, welches daraufhin noch einmal wiederholt wird. Der hebräische Satzbau lässt jedoch eine weitere Übersetzungsmöglichkeit zu, nämlich die zweier aufeinanderfolgender Nominalsätze ohne Apposition: „JHWH ist unser Gott, JHWH ist einer/einzig“. Mit dieser Variante werden zwei Bekenntnisse auf gleicher Ebene ausgedrückt: Das Bekenntnis der Sprecher zu ihrem Gott (V. 4b: JHWH ist unser Gott) und die Aussage über die Einheit/Einzigkeit Gottes (V. 4c: JHWH ist einer/einzig), während bei einer Auffassung als Apposition nur letzteres zentral ausgesagt wird und das Bekenntnis zum eigenen Gott syntaktisch untergeordnet ist. Für die Auslegung des ersten Teils als Nominalsatz („JHWH ist unser Gott“) nennt Otto weitere Gründe: Zum Einen ergibt sich durch einen Nominalsatz syntaktische Polysemie, weil Subjekt und Prädikatsnomen des Nominalsatzes austauschbar sind. Das heißt, dass das Bekenntnis je einen unterschiedlichen Akzent tragen kann: entweder monotheistisch („JHWH ist unser Gott“) oder monolatrisch („Unser Gott ist JHWH“). Zum anderen kann der Vers, verstanden als zwei Nominalsätze, als synthetischer Parallelismus Membrorum gelesen werden, indem beide Glieder (4b und 4c) sich ergänzend und auslegend aufeinander bezogen sind, wodurch wiederum eine enge Verbindung zwischen beiden Bekenntnisaussagen gewoben wird. Ebenso mehrdeutig ist die Bedeutung des Wortes äḥad („einer/einzig“). Übersetzt man das Zahlwort mit „einer“, so wird die Einheit und Ganzheit der Gottheit betont, was angesichts verschiedener Kultorte hervorgehoben werden soll. Die Übersetzung „einzig“ oder „ein Einziger“ weist in die Richtung eines monolatrischen oder monotheistischen Bekenntnisses, da man darunter die Einzigartigkeit (monolatrisch) oder Einzigkeit (monotheistisch) des Gottes fasst. In dieser Bedeutung findet sich der Begriff auch als Topos der Liebessprache (vgl. Hld 6,8f.) und betont damit die Einzig(artig)keit der Beziehung.

nach oben

3. Gottesbild und Auslegungsgeschichte: Monojahwismus – Monolatrie – Monotheismus

Die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten des Bekenntnisteils im Hauptgebot zeugen von einer vielschichtigen Entwicklungsgeschichte mit einem gewachsenen Gottesbild.

Als erste Stufe kann man den Monojahwismus fassen. Angesichts vieler verschiedener Kultorte für JHWH ist es ein Anliegen dieser Epoche, die Einheit der Gottheit JHWH zu betonen. Es handelt sich demnach nicht um unterschiedliche Teilaspekte JHWHs, die an den verschiedenen Orten verehrt werden, sondern immer und an allen Orten um JHWH als Ganzen. Religionsgeschichtlich fällt diese Phase in das 8./7. Jahrhundert, in dem regionale Heiligtümer sukzessive aufgegeben wurden, um den Kult am königlichen Heiligtum der Davididen in Jerusalem zu konzentrieren: für den einen JHWH soll es ein Heiligtum geben. Biblisch findet sich diese Entwicklung in der Kultzentralisation unter König Josia (2Kön 23; vgl. auch Dtn 12-13) wieder.

Die nächste Stufe beschreibt die Monolatrie: JHWH wird als zum eigenen Volk gehörender Gott bekannt und verehrt, allerdings innerhalb einer polytheistischen Umwelt. Die Existenz anderer Götter wird nicht bestritten, doch hat jedes Volk seinen eigenen Gott. Israels Gottheit ist JHWH. Diese Vorstellung findet sich in exilischer Zeit im 6./5. Jahrhundert.

Während und nach dem Exil (5./4. Jahrhundert) kristallisiert sich das monotheistische Gottesbild heraus. Es erwächst die Erkenntnis, dass es nur einen Gott und Schöpfer der Welt gibt, und nach Israels Erfahrung mit Gott ist es JHWH allein. JHWH ist der eine, einzige Gott.

Die innerbiblische Rezeptionsgeschichte zeigt, dass sich die monotheistische Interpretation durchgesetzt hat (vgl. Sach 14,9).

nach oben

4. Das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5)

„Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5). Nachdem in Dtn 6,4 das Bekenntnis zu JHWH ausgesprochen wurde, folgt nun das Gebot über die Beziehung zu diesem Gott. Beschrieben wird ein tiefgründiges Liebesverhältnis. Das Motiv von Liebe und Hingabe kommt ursprünglich aus dem politischen Bereich. Im altorientalischen Vertragsrecht wird der Begriff „Liebe“ im Sinne von politischer Loyalität gebraucht. Dieses Vertragsverständnis wird nun auf die Beziehung zu JHWH übertragen. Durch die dreimalige Repetitio von „ganz“ (hebr. kol) wird die Absolutheit der Loyalitätsforderung sprachlich unterstrichen. Zenger weist darüber hinaus auf eine weitere Deutung der Liebesmetapher hin: Die Liebe zu Gott ist eine Antwort auf die Taten Gottes und daher ebenfalls als „Tatliebe“ zu begreifen. Sie findet Erfüllung, indem die Sozial- und Herrschaftsordnung Gottes umgesetzt wird, wie es das deuteronomische Gesetz verlangt. Dabei ist das Volk als Ganzes aufgerufen, das kollektive Du vor dem Einzelnen angesprochen. Für die Liebesmetapher als Ausdruck einer engen Beziehung finden sich viele weitere biblische Analogien und Bilder: beispielsweise bei Hosea das Bild von Bräutigam (JHWH) und Braut (Israel) oder in der Weisheit das Verhältnis von Vater/Lehrer (JHWH) zu Sohn/Schüler (Israel). Zur Beschreibung der Art und Intensität der Liebe werden drei „Organe“ bzw. Quellen genannt: Das Herz bezeichnet als Sitz von Verstand und Gefühl den Personkern des Menschen. Es betont eine Liebe mit allen Sinnen. Der Übersetzung „Seele“ liegt der vieldeutige hebräische Begriff nefesch zugrunde. Er beschreibt eine emotionale und intellektuelle Kraft, physische Lebenskraft und psychisches Vermögen. Die Liebe soll aus einer reflektierten Haltung erstehen und inspirierend wirken. Was schließlich mit „Kraft“ übersetzt wird, ist eigentlich kein existierender Begriff, sondern ein Abstraktum, das aus dem Bekräftigungspartikel „sehr“ gebildet ist. Dieser dritte Aspekt fasst die beiden vorigen intensivierend zusammen und umschreibt die Ganzheitlichkeit der Liebesbeziehung zu Gott.

Im Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) und im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) sind die zentralen Voraussetzungen im Alten Testament grundgelegt, die Jesus später zum Doppelgebot der Liebe zusammenfasst (vgl. Mk 12,28-34).

nach oben

5. Paränetische Explikation des Hauptgebots (Dtn 6,6-9)

An das Hauptgebot, bestehend aus Aufruf, Bekenntnis und Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,4f.), schließt sich eine belehrende Erklärung zum Umgang mit „diesen Worten“ an (Dtn 6,6-9). Die Überleitung bildet die Fortführung „Und diese Worte“ (Dtn 6,6). In der Forschung werden unterschiedliche Bezugsmöglichkeiten des Demonstrativpronomens „diese“ diskutiert: Grammatisch im engeren Sinne kann sich das hebräische Demonstrativpronomen an dieser Stelle nur anaphorisch auf die vorangehenden Worte beziehen. Die direkt zuvor stehenden Worte, also das Schema Israel (Dtn 6,4f.), sind also Objekt für die folgende Belehrung, da sie ohnehin die Summe der ganzen folgenden Lehre auf den Punkt bringen. Die kurze Fassung ihrer Worte eignet sich zudem vortrefflich für das Aufschreiben zur steten Erinnerung. In einer synchronen Perspektive könnte das Demonstrativpronomen jedoch auch den weiteren Kontext der Passage in den Blick nehmen. Demnach wäre auch der mit dem Hauptgebot eng verwobene Dekalog vom Horeb (Dtn 5,6-21) Inhalt des im Folgenden beschriebenen Behaltens, Tradierens, Memorierens und Niederschreibens. Das Bild, dass „diese Worte […] auf deinem Herzen geschrieben stehen [sollen]“ (Dtn 6,6) greift die in Dtn 5,10 genannte Liebe und Treue JHWHs auf und knüpft an die in Dtn 6,5 geforderte Liebe zu JHWH an. Dabei impliziert die Präposition „auf/über“ ein Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnis: Die Person soll in Intellekt, Gedächtnis und Emotion vollständig von diesen Worten und ihrer Wirkmacht bestimmt sein. Dies wird im nächsten V. 7 konkretisiert: Zum einen geht es dabei um die Weitergabe an die Nachkommen. Die Einheitsübersetzung übersetzt korrekt „Kinder“, da der hebräische Gebrauch der „Söhne“ hier auch die Töchter miteinschießt (Dtn 6,7). Für sie sollen die Worte regelmäßig wiederholt werden, um sie ihnen einzuprägen. Zum Anderen betrifft der Umgang mit den Worten auch jeden Menschen persönlich. Die Worte sollen alle Lebensvollzüge des Menschen bestimmen: das (zu Hause) Sitzen, das Unterwegs-Sein, das Schlafen und Wachen. Ständig und überall soll der Mensch diese Worte vor sich hinmurmeln, aufsagen, rezitieren und sich damit aktiv ins Gedächtnis rufen. Der Beginn des Psalters (Ps 1,1-2) spielt genau auf so einen reflektierten und bewussten Umgang mit dem Gesetz (hebr. tora) JHWHs an. Im letzten Abschnitt (Dtn 6,8f.) werden Vorschriften zu sichtbaren Erkennungszeichen gegeben, die man sich für die Verwahrung verschriftlichter Formen der Worte anfertigen soll. Der hebräische Ausdruck ʿōt („Zeichen, Hinweis, Ausweis“) dient hier als Erkennungszeichen und drückt die Zugehörigkeit zu JHWH aus. Da im Anschluss konkrete Körperteile genannt werden (Handgelenk, Stirn), ist an ein wörtliches Verständnis des Anbindens zu denken. Welche Artefakte damit gemeint sind, ist historisch allerdings schwer zu ermitteln. Es kann sich um Reife oder Plättchen mit einer Inschrift gehandelt haben. Der Begriff Tefillin, der die bis heute bekannten Gebetsriemen beschreibt, ist allerdings erst aus viel späterer Zeit belegt. Darüber hinaus sollen auch private Türpfosten und öffentliche Stadttore schriftlich mit den Worten versehen werden. Die ursprüngliche Tempel-Praxis wird damit auf den profanen Bereich ausgeweitet, was zur Heiligung des gesamten Landes beitragen soll. Diese Maßnahme steht im Kontext der Kultzentralisation und soll angesichts der Konzentration des Kultes an einem Ort der Profanierung des breiten Gebietes entgegenwirken.

nach oben

6. Quellen

  • Otto, Eckart, Deuteronomium 1-11. Zweiter Teilband: 4,44-11,32, Freiburg i. Br. 2012 (HThKAT 8.2), 793-812.
  • Pietsch, Michael, Josia, in: WibiLex online (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/22824/) [zuletzt besucht am 14.09.2023].
  • Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 179-182.

nach oben

Erstellt von Marion Bohlender, 2023.