- Poesie im Alten Testament
- Struktur des Psalters
- Psalmengattungen
- Funktion und Ursprung des Psalters
- Anthropologie der Psalmen
- Quellen
Poesie im Alten Testament
In modernen europäischen Sprachen ist neben dem Reim oft das Metrum (bestimmte Abfolge von betonten und unbetonten oder langen und kurzen Silben) ein entscheidendes Kriterium für poetische Texte. Dagegen ist das biblische Hebräisch als semitische Sprache anders aufgebaut. Es arbeitet weder mit Reimen noch mit klar umrissenen Metren.
Parallelismus membrorum
Das wichtigste Merkmal für Poesie im Alten Testament ist der sog. Parallelismus membrorum. Dieses Gestaltungsmittel erstreckt sich meist über zwei bis drei Versglieder (griech. stichos/kolon – „Zeile, Vers, Glied“), wobei je zwei Stichoi/Kola aufeinander bezogen sind. Der Bezug kann dabei inhaltlich und formal bestehen. Ein inhaltlicher Parallelismus membrorum kann synonym (es wird zweimal nahezu dasselbe ausgesagt), antithetisch (die Versglieder drücken Gegensätze aus), synthetisch (der Gedankengang wird weitergesponnen) oder klimaktisch (der Gedankengang wird gesteigert) gestaltet sein. Formal kann der Parallelismus membrorum entweder chiastisch (die aufeinander bezogenen Versteile stehen überkreuz, a-b-b-a) oder parallel (die aufeinander bezogenen Versteile stehen in gleicher Reihenfolge, a-a-b-b) aufgebaut sein. Die verschiedenen Arten der inhaltlichen und formalen Gestaltung eines Parallelismus membrorum können auch kombiniert auftreten, sodass dieses Gestaltungsmittel eine Reihe an poetischen Ausdrucksformen eröffnet. Das differenzierte Ausleuchten eines Sachverhalts erzeugt beim Rezipienten einen Gedanken-Nachklang, durch den die Inhalte der Lieder tiefer reflektiert werden können. Im Gegensatz zum Metrum, das beim Übersetzen nicht so einfach in der Zielsprache nachgeahmt werden kann, ist der Parallelismus membrorum als Gedankenreim in verschiedene Sprachen übertragbar. Seinen Sinn und Ursprung hat diese Form von Poesie wohl im Wechselgesang zweier Sänger(-chöre), z.B. dem Vorbeter und dem Volksgesang, die sich jeweils abwechselten. Zudem bietet der Parallelismus membrorum eine didaktische Methode zum Erlernen und Behalten der Gesänge.
Weitere Charakteristika
Neben diesem weitaus vorherrschenden Merkmal alttestamentlicher Poesie sind auch weitere Charakteristika greifbar. Zuweilen werden Kehrverse verwendet, die häufig unterschiedliche Strophen voneinander abgrenzen. Strophenbildung tritt vor allem bei Metaphern oder Allegorien auf, wo eine Bildeinheit als eine Sinneinheit verstanden wird. Ein weiteres Phänomen ist das Akrostichon, bei dem die Anfangsbuchstaben der Verse in der Summe ein Wort ergeben oder nach dem Alphabet sortiert sind (z.B. Ps 119: je acht Verse pro Buchstabe). Auch diese Methode dient hauptsächlich als Hilfsmittel zum Memorieren der Texte. Neben dem Psalter als großes Gebets- und Gesangsbuch finden sich auch einige Lieder im Alten Testament außerhalb dieser Sammlung, z.B. das Mose-Lied in Ex 15.
Struktur des Psalters
Zum Begriff des Psalters
Die Bezeichnung „Psalter“ umschreibt das Buch der Psalmen, also die Sammlung der 150 Psalmen, als Ganzes. Dabei geht der Begriff „Psalm“ auf das griechische Verb ψάλλειν (psallein – „ein Saiteninstrument spielen“) zurück und bezieht sich auf den Gesang der Lieder, der mit einem Saitenspiel begleitet wurde. Im Hintergrund steht hierbei die Stilisierung der Figur Davids als Leierspieler, Sänger und Ordner des Gottesdiensts. Im jüdischen Kontext ist auch die Bezeichnung „Buch der Loblieder“ geläufig.
Unterteilung in fünf Bücher durch Doxologien
Betrachtet man den Psalter nach Einzelpsalmen, lassen sich kaum Zusammenhänge oder Bezüge erkennen, weshalb das Buch der Psalmen lange Zeit als Anthologie (= Sammlung ausgewählter Texte in mehr oder weniger wahlloser Aneinanderreihung) verstanden wurde. Allerdings lassen sich im größeren Kontext doch kompositionelle Überlegungen und übergreifende Dynamiken feststellen. Der Psalter als Ganzes kann in fünf Bücher unterteilt werden, die jeweils mit einer Doxologie abschließen (s.u.). Die Einteilung in fünf Bücher erinnert an die fünf Bücher Mose, die Tora, das Gesetz von Gott. Somit können die Psalmen, Gebete und Gesänge des Volkes, als Antwort Israels auf die Weisung Gottes in der Tora gelesen und verstanden werden. Psalm 1 und 2 bilden gemeinsam den Auftakt als Proömium des Psalters und die Psalmen 146-150 das große Schluss-Hallel (hallel – hebr. „Lobe!“). Diese Psalmen bilden die Rahmenstruktur für den Psalter und bieten eine gewisse Leserlenkung an: Mit der Torareflexion in Ps 1 und der Königstheologie in Ps 2 werden Grundthemen gesetzt, die bis zum Einstimmen in das große Schlusslob betend bedacht werden.
Doxologien
Ps 41,14: Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen, ja amen.
Ps 72,18f.: Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels! Er allein tut Wunder. Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit auf ewig! Die ganze Erde sei erfüllt von seiner Herrlichkeit. Amen, ja amen.
Ps 89,53: Gepriesen sei der HERR in Ewigkeit. Amen, ja amen.
Ps 106,48: Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alles Volk soll sprechen: Amen. Halleluja!
Ps 146-150: Großes Schluss-Hallel (5 Ps mit „Halleluja“ gerahmt; in Ps 150 zusätzlich 10x „Halleluja“)
Thematische Psalmengruppen und Grundtendenz des Psalters
Innerhalb des Psalters gibt es einzelne Teilsammlungen, die bestimmten Sängern oder Situationen zugeschrieben werden (Davidpsalmen, Asafpsalmen, Korachpsalmen, Königspsalmen, Wallfahrtspsalmen). Strukturierend wirkt zudem eine übergreifende Dynamik, die sich über alle fünf Bücher erstreckt: Eine Bewegung von der Klage zum Lobpreis Gottes zeichnet den Psalter insgesamt aus und spiegelt damit zugleich die typische Dynamik eines individuellen Klagepsalms. Bücher 1-3 sind daher überwiegend von der Klage beherrscht, während in den Büchern 4 und 5 der Lobpreis bis hin zum großen Schluss-Hallel (146‒150) dominiert. Außerdem lässt sich eine zunehmende Kollektivierung der Themen beobachten. Während zu Beginn des Psalters Inhalte auf individueller und anthropologischer Ebene vor Gott gebracht werden, werden mit Fortschreiten des Psalters eher geschichtstheologische und gesamtisraelitische Fragestellungen reflektiert. Darüber hinaus treten auch kleinere, strukturierende Aspekte auf, z.B. durch den literarischen Zusammenhang benachbarter Psalmen (vgl. Ps 22 und 23). Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass sich die Strukturmerkmale auch teilweise widersprechen, sodass nicht einheitlich von geradlinigen Strängen gesprochen werden kann.
Bezeichnung |
Ps Nr. |
Charakteristika |
Davidpsalter (5 Gruppen) |
3‒41; 51‒72; 86; 101‒103; 108‒110; 138‒145 |
Bitte um Beistand, Klage in Bedrängnis, tendenziell individuell |
Asafpsalmen (12 Ps) |
50; 73‒83 |
Volksklage, Gericht; Zerstörung des Tempels; Exil: geschichtstheologisch |
Korachpsalmen (12 Ps) |
42‒49: 84f.; 87f. |
(Schöpfungs-)Ordnung, Macht, Ewigkeit ‒ Lob Gottes: zionstheologisch |
JHWH-Königs-Psalmen |
93‒100 |
Königsherrschaft Gottes; messianisch |
Wallfahrtspsalter (15 Ps) |
120‒134 |
Zion, Tempel als Wallfahrtsziel |
Zählung der Psalmen
Die Septuaginta verfügt im Unterschied zum hebräischen Tanak über einen 151. Psalm, der Biographisches über David enthält, und wendet eine andere Zählung an als der masoretische Text. Die katholische Tradition ist in der Anzahl der Psalmen dem masoretischen Text, in der Anordnung und Zählung der Psalmen jedoch der Septuaginta gefolgt. Erst seit wenigen Jahrzehnten zählt man auch nach dem masoretischen Text (so auch in dieser Einleitung), wodurch heute zum Teil Doppelnummerierungen auftreten, z.B. für denselben Psalm je nach Kontext und Vorliebe entweder „Ps 22(23)“ oder umgekehrt „Ps 23(22)“. Hierbei gilt die Faustregel: Die niedrigere Nummer bezeichnet immer die traditionell katholische bzw. Septuaginta-Zählung, die höhere die heute üblichere masoretische Zählung.
Psalmengattungen
Je nach Inhalt, Aufbau und Verwendungskontext können unterschiedliche Gattungen festgemacht werden. Zenger unterscheidet nach Verwendungskontexten der Psalmen und zählt hierbei Hymnen, kollektive Klagepsalmen, Zions- und Königspsalmen zum offiziellen Kult, individuelle Klage-, Bitt- und Dankpsalmen zum familiären Kult und grenzt diese beiden von nicht-kultischen Psalmen ab, zu denen er die Weisheits-/Lehrpsalmen zählt. Letztere stellen keine Gebete im engeren Sinne dar, sondern können als allgemeine Reflexionen gelten, die zwar keinem festen Schema folgen, aber doch kunstvoll komponiert sind (z.B. Ps 73). Hymnen, individuelle Klage- und Dankpsalmen sowie kollektive Klagepsalmen weisen dagegen oft einen schematischen Aufbau auf: Als besonders paradigmatisch gilt der individuelle Klagepsalm (vgl. z.B. Ps 13 oder Ps 22). Er beginnt mit einer Anrede an Gott, auf die sogleich die Klage folgt, an deren Ende wiederum eine Bitte um Rettung formuliert wird. Manchmal wird diese Bitte noch begründet. Charakteristisch für den Klagepsalm eines Einzelnen ist die darauffolgende Rettungserfahrung, der sog. Stimmungsumschwung. Er ist im Perfekt verfasst und spiegelt damit einen inneren Prozess: Der Beter gelangt im Gebet zur Zuversicht und äußert diese performativ. Zum Schluss kann noch ein Lob oder Dank folgen. Ähnlich dazu ist der kollektive Klagepsalm bzw. die Volksklage aufgebaut (vgl. z.B. Ps 74,1-10): nach einer Anrufung oder Anrede Gottes, zuweilen mit Prädikation, folgt die Notschilderung und Klage, an deren Ende sich eine Bitte um die Wende des Unheils schließt. Mit einem Lobversprechen oder Vertrauensbekenntnis endet die Volksklage. Ebenso ähnlich verläuft das individuelle Danklied (vgl. z.B. Ps 116,1-9): Auf die Anrede Gottes mit Ankündigung des Lobliedes folgt eine Schilderung der Not und Rettung mit dankendem Lobpreis. Am Ende kann eine Aufforderung an die Gemeinde anschließen, die das Volk zum gemeinsamen Loben aufruft. Hymnen unterscheidet man in imperativische und partizipiale Hymnen. Beim imperativischen Hymnus ist die Aufforderung zum Lob der wichtigste Inhalt des Liedes (vgl. z.B. Ps 100). Es folgen Lobpreis und Begründung des Lobens. Der partizipiale Hymnus ist nach der Aufforderung zum Lob durch Beschreibungen Gottes in Form von Partizipien charakterisiert, die den durativen Aspekt der Gottesprädikate hervorheben (vgl. z.B. Ps 104,1-5). Jedoch gilt auch hinsichtlich der Psalmengattungen, dass diese sehr paradigmatisch und typisch beschrieben werden. Die überwiegende Mehrheit der Psalmen lässt sich keiner der üblichen Gattungen eindeutig zuordnen, da sie meist Mischungen dieser schematischen Gattungen darstellen.
Funktion und Ursprung des Psalters
Zenger beschreibt den Psalter als „Gebet- und Lebensbuch“ Israels, das hauptsächlich zwei große Funktionen besitzt: Zum einen stellt es eine „Hoffnung stiftende Deutung menschlicher Existenz“ (Zenger, 452) inmitten von Leid und Angst dar, zum anderen ist es eine „Antwort auf JHWHs Wirken und Gegenwärtigsein“ (ebd.), das stellvertretend für Israel und die ganze Schöpfung ausgesprochen wird. Dabei ist das Gebet die authentischste religiöse Rede von Gott, da hier persönliche Lebenserfahrungen mit Gottesbezug reflektiert werden. Das Buch der Psalmen kann somit als „Spiegel der widersprüchlichen Vielfalt des Lebens“ (ebd.) betrachtet werden, das gerade deshalb die Gattungen gezielt mischt. Im Gespräch mit Gott gibt Israel „Antwort auf die erfahrene Zuwendung und die erlittene Verborgenheit seines Gottes“ (ebd.). Die Überlieferungen von Tora und Propheten werden durch die Gebete im Buch der Psalmen betend angeeignet und aktualisiert. Das betende Ich weiß sich dabei immer eingebettet in das Wir des Gottesvolkes. Dieses zugrundegelegte Zusammengehörigkeitsgefühl zeichnet die Gebete Israels als Besonderheit gegenüber seinen Nachbarvölkern aus.
Als Stifter des Psalters gilt David: wie Mose die fünf Bücher der Tora stiftete, so David die fünf Bücher des Psalters. Aufgrund verschiedener literarischer Motive (David als Musiker, Tänzer, Dichter) scheint David prädestiniert für die Rolle als Urheber des Psalmenbuchs. Neben einer zunehmenden Verknüpfung Davids und des Psalmenbuchs (Überschriften, die David als Verfasser angeben, oder Zuschreibung einzelner Psalmen zu bestimmten Situationen aus dem Leben Davids) geht damit auch eine theologische Qualifizierung einher: Der Psalter ist „das königlich-messianische Buch schlechthin“ (Zenger, 453), da es die Gebete der messianischen Hoffnung, der Hoffnung auf einen wiederkommenden David, enthält. David ist in diesem Zusammenhang eine messianische Leitfigur, jedoch dient er auch als Idealgestalt des Beters, der mit seinem Gott lebt und all sein Leben betend vor ihn bringt. Er wird nicht als Krieger oder Held dargestellt, sondern verkörpert den „Typus des gottgeliebten und gottliebenden Israel“ (Zenger, 454) und dient somit als Identifikationsfigur für jeden betenden Gläubigen, der die Psalmen wie und mit David betet. Für Christen stellt Jesus den paradigmatischen Psalmenbeter in der Nachfolge Davids dar. Die Kirche kennt daher keine eigene neue Gebetssammlung, sondern nimmt das allgemein anerkannte Buch der Psalmen als klassisches Gebetsbuch an. Im Bewusstsein um die Identifizierung mit David und mit Israel machen sich auch die Christen die Sprache und Bilder der Psalmen zu eigen.
Anthropologie der Psalmen
Anhand der Gebete und Lieder, in denen der Mensch ganz persönlich vor Gott tritt, wird die Anthropologie des Alten Testaments besonders deutlich. Am häufigsten wird für den Menschen die Bezeichnung „Adam“ (wörtlich hebr. „Erdling“) verwendet und kollektiv für die Gattung „Mensch“ bzw. für die Menschheit im Allgemeinen gebraucht. Sie entspricht damit dem Menschenbild, das dieser Begriff in Gen 2,7 ätiologisch entfaltet. Daneben tritt im Psalter der Parallelbegriff „Enosch“ (hebr. „Menschlein“), eine Art Diminutiv-Form, die entweder despektierlich oder demütig gemeint sein kann. Vorgeprägt von den beiden Schöpfungstexten präsentiert der Psalter den Menschen als ambivalentes Wesen: Gerade im Kontext des Schöpfungshymnus wird er als Krönung der Schöpfung gepriesen (vgl. Ps 8,6f.), allerdings wird auch seine Vergänglichkeit reflektiert (vgl. Ps 49, Ps 90). In jedem Fall wird der Mensch als Gegenüber Gottes vorgestellt. Der Mensch erfährt sich nicht als autonom, sondern in großem Maße als abhängig und bezogen. Seine eigene Existenz ist Teil eines kosmisch-numinösen Gefüges, eines göttlichen Rahmens für die menschliche Sphäre. Die Individualität ist wiederum der Sozialität, der Einbindung des Einzelnen in eine Gemeinschaft, nachgeordnet. Der einzelne Mensch ist somit doppelt bezogen: auf der menschlichen Sphäre auf seine soziale Umwelt, im größeren kosmischen Zusammenhang auf Gott. Darüber hinaus kennzeichnet das hebräische Menschenbild die Ganzheit und Einheit des Menschen. Der Mensch stellt keine Dichotomie aus Leib und Seele oder Trichotomie aus Körper, Seele und Geist dar, sondern es besteht eine ganzheitliche Verwobenheit und Wechselwirkung zwischen leiblichen, seelischen, sozialen und spirituellen Aspekten. Um die verschiedenen Aspekte des ganzheitlichen Menschen zu betonen, kommen folgende Begriffe zum Einsatz:
- Der hebräische Ausdruck „basar“ (Fleisch) wird für den Körper gebraucht und hat teilweise eine vergängliche Konnotation.
- Der deutschen Übersetzung „Seele“ liegt häufig der Begriff „nefeš“ zugrunde, der eine ganze Reihe von Bedeutungsnuancen enthält. Wörtlich verstanden bezeichnet er zunächst im körperlichen Sinn das Organ der Kehle und in diesem Kontext auch den Atem und die Grundbedürfnisse. Im weiteren Sinne kann der Begriff aber auch für Vitalität und Lebendigkeit stehen.
- Das kognitive und emotionale Zentrum des Menschen ist laut hebräischem Menschenbild das Herz (hebr. „leb“). Es ist Sitz des Verstandes und der Gefühle, der Ort des Denkens und Fühlens.
- Antrieb zum Wollen und Handeln bietet der Geist (hebr. „ruaḥ“), der auch als Atem, Hauch oder Wind verstanden werden kann.
Die Situation des Menschen, wie er sich selbst in den Psalmen beschreibt (v.a. in den Klagepsalmen, aber auch in Dankpsalmen), ist geprägt von Mangel und Gefährdung. Diese können psycho-physisch (z.B. durch Krankheit), sozial, ökonomisch, juristisch, politisch-strukturell veranlasst (meist ausgelöst durch einen Feind) oder durch theologische Nöte bestimmt sein (z.B. Gottesferne). Zur Notbewältigung sucht das betende Ich Schutz und Zuflucht bei JHWH, die er im Gebetsvollzug findet. Demgegenüber tritt der Mensch in den Psalmen auch als Feiernder vor Gott, indem er in der Gemeinschaft mit anderen Gott lobt und preist. Feinde werden hingegen als Widersacher, Frevler oder Gottlose beschrieben und können alleine oder als Gruppe auftreten. Im engeren Sinne sind damit reale Personen im näheren oder ferneren Bekanntenkreis des Beters gemeint, die neben den situativen Umständen als Zweitverursacher der Not angeklagt werden. Im weiteren Sinne können je nach Kontext auch militärische Gegner oder politisch-strukturelle Feindmächte angesprochen sein. Ebenso ist eine metaphorische Redeweise von Feinden als Chiffre für das Böse schlechthin geläufig. Die Feindschafts- und Vergeltungsaussagen stehen dabei vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Rechtsdenkens: Gleichgewicht von Schaden und Strafe (sog. lex talionis, vgl. Ex 21,23-25) und Tun-Ergehen-Zusammenhang, laut dem eine böse Tat auf den Täter zurückfällt. Der Beter stellt sich als Opfer und Gegner des Feindes dar, der, indem er das Verhältnis der Menschen untereinander gefährdet, auch die Beziehung zwischen Gott und sich selbst verletzt (sog. konnektive Gerechtigkeit). Das Ziel dieser Darstellung ist die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bzw. die Rechtfertigung des Gerechten. Es geht dabei nicht um persönliche Rache, sondern um die Wiederherstellung der von Gott verbürgten Rechtsordnung.
Quellen
- Millard, Matthias, Psalter, in: WibiLex online (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31552/) [zuletzt besucht am 22.08.2023].
- Weber, Beat, Werkbuch Psalmen 3. Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen, Stuttgart 2010.
- Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 431-455.
Erstellt von Marion Bohlender, 2023.