I. Aufgabe und Begriffe
Nach Ebner/Heininger (2018, 184) ist eine Gattung „ein sprachliches Muster, ein Raster, nach dem Texte aufgebaut sind. Die Gattung selbst ist kein Text, sondern ein virtuelles Schema, das die Produktion von gesprochenen und geschriebenen Texten steuert.“ Utzschneider/Nitsche (2001, 119) nennen Gattungen „typische Weisen der Kommunikation, sofern sie sprachlich sind“. Die Gattung in ihrer abstrakten Form umfasst dabei das gesamte Werk (z. B. Evangelium, Brief) bzw. die gesamte Perikope (z. B. Berufungserzählung; natürlich ist es im individuellen Fall aber auch möglich, dass eine Gattung nicht einen gesamten konkreten Text einnimmt, vgl. z. B. Ex 3, wo die Gattung „prophetische Berufungserzählung“ nur einen Teil des Textes von Ex 3 umfasst). Kleinere „Typische Weisen der Kommunikation“ kann man nach Hieke/Schöning (2017, 115) „Formeln“, „geprägte Wendungen“ und „geprägte Schemata“ nennen.
Definitionen nach Hieke/Schöning (2017, 115):
- „Formeln nennt man kurze, festgeprägte Redewendungen, die in literarisch voneinander unabhängigen Texten wiederkehren.“
- „Geprägte Wendungen sind kurze, festgeprägte Redewendungen, die in literarisch voneinander abhängigen Texten wiederkehren, also typisch für einen Verfasser, eine literarische Sammlung oder eine Redaktionsschicht sind.“
- „Ein geprägtes Schema ist eine Abfolge von zwei oder mehr geprägten Wendungen oder Formeln in mehreren Texten in gleicher Anordnung oder Reihenfolge.“
Die Gattungskritik umfasst damit verschiedene Ebenen: Das Werk als Ganzes, eine einzelne Perikope oder im Fall der eben aufgeführten ‚kleineren‘ typischen Kommunikationsweisen auch nur einen oder wenige Sätze. Gleichzeitig kann die Gattung auf Ebene des Werkes oder der Perikope auch bestimmte Formeln, Wendungen und Schemata enthalten. Oder anders ausgedrückt: Formeln, Wendungen und Schemata können typisch für bestimmte Gattungen sein.
Die Begriffe „Formkritik“ und „Gattungskritik“ werden in der Literatur oft synonym verwendet. Die Formkritik im engeren Sinne versucht bestimmte Kleinst-Formen bzw. Formeln abzuleiten, die auf eine feste Prägung schließen lassen (vgl. Formeln, geprägte Wendungen und Schemata). Größere Textabschnitte bzw. Werke und Perikopen laufen meist unter dem Begriff der Gattungskritik, wenn es etwa um die Einteilung ganzer Texte oder größerer Textzusammenhänge geht (Gleichnis, Wundererzählung, Evangelium etc.).
II. Methode
Die Bestimmung von Gattungen funktioniert in 3 bzw. 4 Schritten:
- Zuerst geht es darum, den entsprechenden Textausschnitt oder das gesamte Werk (z. B. Evangelium) hinsichtlich verschiedener Aspekte zu analysieren: Struktur, Sprache, Semantik, Traditionen, Narratologie, Pragmatik… Die Liste der Aspekte ist offen, da je nach Gattung unterschiedliche Aspekte der Textanalyse relevant sein können. Konkret geht es um die Bestimmung der Eigenheiten des vorliegenden Textes. Auf dieser Grundlage kann eine erste Hypothese zu möglichen Formeln, geprägte Wendungen, geprägten Schemata und Gattungen im Untersuchungstext aufgestellt werden.
- Ein Text für sich allein genommen kann jedoch nicht als Gattung identifiziert werden. Erst ein Vergleich mit anderen Texten, die ähnliche gattungskritische Signale aufweisen, kann dies leisten. Die Gattungsbestimmung ist niemals endgültig abgeschlossen, da der Vergleich mit unterschiedlichen Texten oftmals auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann bzw. Feinabstimmungen zum Auffinden von Untergattungen führen können. Die Auffälligkeiten sind in den seltensten Fällen vollkommen identisch, daher muss man immer wieder mit Verschiebungen rechnen. Die Suche nach passenden Vergleichstexten kann entweder über entsprechende Textsammlungen oder Datenbanken erfolgen oder, falls es zur gesuchten Gattung schon Untersuchungen gibt, über die Sekundärliteratur. Dort finden sich bereits zu einigen Gattungen sog. Gattungsschemata, also Beschreibungen der Gattungen im Allgemeinen. Falls nicht, muss so ein Gattungsschema im nächsten Schritt erstellt werden.
- Um ein Gattungsschema zu erstellen, müssen die Gemeinsamkeiten der Einzeltexte (des Untersuchungstextes sowie der aufgefundenen Vergleichstexte) zusammengetragen werden.
- Zum Schluss steht die Auswertung an: Inwiefern entspricht der Untersuchungstext dem Gattungsschema? Handelt es sich eher um eine typische oder eher um eine atypische Verwendung der Gattung? Werden mehrere Gattungen kombiniert? Werden über die Gattung konkrete Bezüge zu anderen Texten (Intertextualität) geschaffen und können diese chronologisch eingeordnet werden? Was bedeutet dies alles für die Erwartungen der Leserinnen und Leser und die Aussageabsicht des Textes? Lässt sich der soziokulturelle Hintergrund der Gattung, also der sog. Sitz im Leben, bestimmen?
III. Relevanz
Gattungen geben Einblicke in die Kommunikationssituation(en) der einzelnen Autorinnen und Autoren, sowohl der typischen Kommunikationssituationen als auch des atypischen Einsatzes von Gattungen. Hier besteht ein enger Bezug zur Textpragmatik, da mit der Verwendung einer Gattung bestimmte Erwartungen bei den Leserinnen und Lesern geweckt werden.
IV. Übungsaufgaben
© Übungsaufgaben: Oliver Hübschmann