I. Aufgabe
Die narratologische Analyse ist der Untersuchung von Erzählungen gewidmet. Klassisch ist eine Erzählung durch die Existenz einer Vermittlungsinstanz definiert: Anders als beim Drama tritt ein Erzähler zwischen Autor und dargestellte Welt. Dies änderte sich im Strukturalismus, der das Gegenüber zur Erzählung nicht mehr im Drama sah, sondern in der Beschreibung. Hervorgehoben wurden dadurch die zeitliche Struktur und Veränderungen als wesentliche Merkmale der Erzählung. Neuere kognitiv ausgerichtete Narratologien richten sich verstärkt auf die inhaltliche Deutung der Figuren, die Erzählperspektive und den erzählten Raum. Diese verschiedenen Zugangsweisen schließen sich nicht gegenseitig aus, sie können sich ergänzen bei der Aufgabe, Eigenart und Bedeutung von Erzähltexten zu erfassen.
II. Methode
Zur Anwendung narratologischer Verfahren gehört die Klärung grundsätzlicher Fragen, etwa: die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen; die Definition von Ereignissen, die für eine Erzählung relevant sind; die Erhebung von Kommunikationsebenen und Erzählinstanzen. Hier sollen allein jene Aspekte vorgestellt werden, die bei der konkreten narratologischen Analyse von Erzählungen zu beachten sind.
(1) Erzähler und Figuren
a) Als Figuren gelten die Größen einer Erzählung, denen die Fähigkeit zu intentionalem Handeln zugeschrieben werden kann. So ist in den Evangelien z.B. auch Gott in diesem Sinn als Erzählfigur zu verstehen. Die narratologische Analyse richtet sich auf die Charakterisierung von Figuren. Sie kann grundsätzlich auf zwei Arten geschehen:
- Direkte Charakterisierung: Eine Figur wird durch eine ausdrückliche Aussage charakterisiert (z.B. „gerecht vor Gott“). Dies kann durch den Erzähler erfolgen, aber auch durch andere Figuren.
- Indirekte Charakterisierung: Figuren werden charakterisiert durch ihre Handlungen, ihre Worte, durch Hinweise auf die äußere Erscheinung, auf das soziale oder topographische Umfeld, durch Analogien zu anderen Figuren (wobei die Vergleichsgröße innerhalb oder außerhalb der Erzählung liegen kann).
b) Im Blick auf die Typologie des Erzählers wird häufig das Modell von Gerard Genette zurückgegriffen, das allerdings recht kompliziert ist (vgl. z.B. Ebner/Heininger, 2018, 103-106 [Link]). Einfacher strukturiert ist der Vorschlag des Slawisten Wolf Schmid. Er unterscheidet
- zwei Erzählertypen, die in ihrem Verhältnis zur erzählten Welt (Diegesis) differieren:
- Der diegetische Erzähler kommt in ihr selbst als Figur vor: als unbeteiligter Beobachter, beteiligter Beobachter, Nebenfigur, eine Hauptfigur, die Hauptfigur.
- Der nichtdiegetische Erzähler bleibt auf die Ebene des Erzählens (Exegesis) beschränkt und ist keine Figur der Erzählung. In den Evangelien findet sich dieser Erzählertyp.
- Ein zweites Kriterium der Differenzierung betrifft die Ebene, auf der ein Erzähler verortet ist. Der primäre Erzähler ist der Erzähler der Rahmengeschichte; einen solchen muss es in einem Erzählwerk immer geben. Ein sekundärer Erzähler kann auftreten, wenn eine Figur, die innerhalb der Rahmengeschichte auftritt, selber zum Erzähler einer Geschichte wird (z.B. Jesus als Gleichniserzähler).
(2) Modus/Perspektive
a) Dieser Analyseschritt richtet sich zum einen auf die Frage nach der Distanz: Wie mittelbar oder unmittelbar wird erzählt? Dominiert die Erzähler- oder die Figurenrede? Diese Fragen kann man angehen durch den Blick auf die verschiedenen Arten von Figurenrede:
- In der erzählten Rede (als Rede- oder Bewusstseinsbericht, z.B. Mk 10,22) dominiert der Erzähler, in der zitierten (wörtlichen) Rede die Figur – im NT die häufigste Form.
- Zwischen beiden Formen steht die transponierte Rede, die als indirekte Rede näher beim Erzähler zu verorten ist, als erlebte Rede näher bei der Figur. In der erlebten Rede oszilliert die Darstellung zwischen Erzähler- und Figurenrede, der Erzähler scheint die Perspektive einer Figur einzunehmen (z. B. wenn es in Mk 6,21 heißt, es sei ein günstiger Tag gekommen – erzählt aus der Perspektive der Herodias).
b) Zum andern wird die Perspektive untersucht, aus der heraus erzählt wird, narratologisch mit dem Begriff der Fokalisierung belegt. Man kann hier zwischen interner und externer Fokalisierung unterscheiden: Wird die Perspektive einer Figur eingenommen, wird Einblick in deren Innenleben gewährt (intern) oder wird aus der Außenperspektive des Erzählers ohne Einblick in die Erlebniswelt der Figuren erzählt (extern)?
Die interne Fokalisierung sollte dabei von der Beschreibung einer Wahrnehmung unterschieden werden. In Mk 1,10 heißt es zwar, dass Jesus den Himmel sich öffnen sah; die Perspektive der Erzählfigur wird dennoch nicht eingenommen, die Darstellung bleibt distanziert.
(3) Zeit/Handlung
a) Die Zeitverhältnisse einer Erzählung können zwei unterschiedliche Bezugspunkte haben.
- Der Begriff der Erzählzeit bezeichnet die Zeit, die der Erzähler für das Erzählen benötigt.
- Dagegen bezieht sich die Rede von der erzählten Zeit auf die Dauer der erzählten Geschichte.
b) Die Zeitverhältnisse lassen sich durch drei Analysefragen erfassen:
- In welcher Reihenfolge wird erzählt?
Die Chronologie des Geschehens muss nicht mit der Chronologie der Erzählung übereinstimmen. Es kann zu Anachronien kommen, sei es, dass etwas nachträglich erzählt (Analepse; z.B. Mk 6,17-29), sei es, dass etwas vorweggenommen wird (Prolepse; in Jesusworten etwa die Leidensankündigungen Mk 8,31; 9,31; 10,32-24).
- Wie ist die Dauer zu bestimmen, die für die Darstellung des Geschehens benötigt wird?
- Zeitdeckend: Die Erzählzeit stimmt mit der erzählten Zeit überein (z.B. Szene mit zitierter Figurenrede).
- Zeitraffend: Das Erzähltempo ist beschleunigt, länger dauernde Vorgänge werden in wenigen Sätzen präsentiert (z.B. Sammelberichte wie Mk 1,32-34 oder die Lehrnotiz in Mk 6,34).
- Zeitaussparend: Eine Zeitspanne in der Erzählung wird übersprungen (auch als Extremfall der Zeitraffung deutbar).
- Zeitdehnend: Die Erzählzeit ist länger als die erzählte Zeit.
- Pause: Die Erzählung wird unterbrochen durch Beschreibungen, Kommentare, Überlegungen des Erzählers, die nicht aus der Perspektive einer Figur gegeben werden (z.B. die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums: Mt 1,22f; 2,15 u.ö.).
- Mit welcher Frequenz wird das Geschehen erzählt?
- Singulativ: ein einmaliges Geschehen wird einmal erzählt (der Normalfall in den Evangelien), ein wiederholtes Geschehen wird wiederholt erzählt.
- Repetitiv: Ein einmaliges Geschehen wird wiederholt erzählt (die Berufung des Paulus in Apg 9,1-19; 22,6-16; 26,12-18; die Taufe des Kornelius in Apg 10,1-48; 11,1-18 – die Wiederholungen allerdings allein in Figurenrede).
- Iterativ: Ein wiederholtes Geschehen wird einmal erzählt. Eine solche Darstellung ist also immer zeitraffend (eine Zeitraffung muss aber nicht iterativ sein).
(4) Raum
Die Analyse des Raumes ist erst in jüngerer Zeit in den narratologischen Fokus getreten. Folgt man dem Konzept von Katrin Dennerlein, das darauf zielt, eine Alltagsvorstellung von Raum narratologisch fruchtbar zu machen, lässt sich „Raum“ mit dem Begriff des Containers fassen. Folgende Elemente zeichnen ihn aus:
- Er existiert unabhängig von der Wahrnehmung.
- Er ist konstituiert durch ein Innen und Außen.
- Er kann aus verschiedenen Einzelräumen zusammengesetzt und so auch in größeren Einheiten enthalten sein.
Narratologisch von Bedeutung ist der Raum insofern, als er die Umgebung von Figuren darstellt und zu deren Charakterisierung eingesetzt werden kann. Wichtig ist: Raumvorstellungen können nicht nur durch ausdrückliche Hinweise hervorgerufen werden (Ortsnamen, Ortsadverbien oder Nomina mit lokaler Konnotation). Es kann auch Sache der Leser sein, mit einer gegebenen Beschreibung die Vorstellung eines bestimmten Raumes zu verbinden.
Als Beispiel Mk 3,20-35: Die Bezüge auf innen (dort sind die Anhänger Jesu) und außen (dort halten sich die Gegner auf) lassen sich auswerten für die Lokalisierung der Schriftgelehrten, von denen in 3,22 die Rede ist: Sie sind nicht im Haus zu denken und gehören dann nicht zu denen, die in 3,23 zusammengerufen werden.
III. Relevanz
Hinsichtlich der narratologischen Analyse ist zu beachten, dass sich die in der Literaturwissenschaft entwickelten Kategorien auf fiktionale Literatur beziehen – und damit auf ein Genre, das für die neutestamentlichen Erzählwerke nicht zutrifft. Es können also Adaptionen nötig sein, vor allem im Blick auf die Erzählinstanzen (Autor, Erzähler, Leser, Adressaten). Bei der Analyse der Erzählweise kann die Narratologie gewinnbringend eingesetzt werden, da sie Aspekte von Erzählwerken wahrnehmen lässt, die der Exegese ohne sie entgehen würden.
IV. Übungsaufgaben
© Übungsaufgaben: Leonie Remberger