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Gen 22,1-19

Die Prüfung Abrahams

  1. Kontext
  2. Abgrenzung
  3. Gliederung und Struktur
  4. Auslegung
    1. Exposition (V. 1–3)
    2. Zurückbleiben der Knechte (V. 4–5)
    3. Gespräch zwischen Sohn und Vater (V. 6–8)
    4. Ausführung des Befehls bis zur letzten Konsequenz: Bindung (V. 9–10)
    5. Verhinderung der Ausführung des Befehls: Lösung (V. 11–14)
    6. Zweite Gottesrede und Erneuerung der Verheißung (V. 15–18)
    7. Abschlussnotiz: Rückkehr Abrahams (V. 19)
  5. Fazit
  6. Quellen

Die Erzählung von der Prüfung Abrahams in Gen 22,1–19 hat große Aufmerksamkeit in ihrer Rezeptionsgeschichte erfahren. Denn bei einem unkommentierten Lesen wirkt die Stelle, die auch unter dem Titel „Opferung Isaaks“ bekannt ist, schockierend und anstößig, gerade auch in Bezug auf das Gottesbild. Der Titel „Opferung Isaaks“ wird der Erzählung insofern nicht ganz gerecht, als Isaak im letzten Moment doch nicht geopfert wird. In der jüdischen Tradition wird daher in Anlehnung an das Verb „zusammenbinden, fesseln“ (aqad עקד) in Gen 22,9 der Titel „Bindung Isaaks“ genutzt, der dem Text eher entspricht. Am besten eignet sich jedoch die Überschrift, die der Text selbst in Gen 22,1 bietet: „Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe.“ (Gen 22,1). Auf Grundlage dieses Verbes „prüfen“ (nissah נִסָּה) wird die Perikope Gen 22,1–19 daher auch als „Prüfung Abrahams“ bezeichnet.

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1. Kontext

Gen 22,1–19 gehört kontextuell zu den Abraham-Erzählungen (Gen 12–25). Für das Verständnis dieses Abschnittes sind die Verheißungen in Gen 12, die in Gen 15 zum Bund gesteigert werden, von zentraler Bedeutung. Nachdem Sara aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit zunächst keine eigenen Kinder bekommen kann, nimmt die Erzählung mit den Verheißungen eine neue Wendung. Dort verheißt Gott Abraham neben einer großen Nachkommenschaft auch die Landgabe (vgl. Gen 12,2; 15,5.7.18-20). In Gen 17,4–8 schließlich wird die Geburt von Isaak angekündigt: „deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Isaak geben. Ich werde meinen Bund mit ihm aufrichten als einen ewigen Bund für seine Nachkommen nach ihm.“ (Gen 17,19) So wird Isaak, von dessen Geburt in Gen 21,1–8 berichtet wird, zur Figur, an deren Leben die Verheißung der Nachkommenschaft und der Landgabe – kurz gesagt, der Bund Gottes! – hängt. Er „verkörperte für die Leserschaft […] das entscheidende Zeichen für die Verläßlichkeit Gottes im Blick auf seine Verheißungen und die Erhaltung der Existenz Israels“ (Hartenstein, 21), sodass Gen 22,1–19 auf dieser Grundlage verstanden und gelesen werden muss.

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2. Abgrenzung

Gen 22,1 schließt an die Erzählung von Abrahams Vertrag mit Abimelech in Beerscheba in Gen 21,22–34 an. Die Erzählung wird durch den Satz „Nach diesen Ereignissen“ (Gen 22,1) eingeleitet und damit auch vom vorherigen Geschehen abgegrenzt, Zugleich treten im Folgenden neue Figuren auf, die unmittelbar zuvor keine Rolle gespielt haben (vgl. Isaak, Knechte, Gott). Mit demselben Satz wird in Gen 22,20 („Nach diesen Ereignissen“) erneut ein neuer Text eingeleitet, der damit von Gen 22,1–19 getrennt zu betrachten ist. Damit ist Gen 22,1–19 gut als eigenständige Erzählung abzugrenzen.

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3. Gliederung und Struktur

1–3: Exposition: Überschrift, Befehl Gottes und Beginn der Ausführung
4–8: Weitere Ausführung des Befehls durch Annäherung an den Ort
      4–5: Zurückbleiben der Knechte
      6–8: Gespräch zwischen Sohn und Vater
9-14: Das Geschehen bei Erreichen des Ortes
      9-10: Ausführung des Befehls bis zur letzten Konsequenz: Bindung
      11-14: Verhinderung der Ausführung des Befehls: Lösung
15–18: Zweite Gottesrede und Erneuerung der Verheißung
19: Abschlussnotiz: Rückkehr Abrahams

(Gliederung nach Hartenstein, 3–5)

Die Erzählung Gen 22,1–19 ist als Handlungskette konzipiert, wobei eine Handlung auf die nächste folgt. Dies spiegelt sich auch in der Struktur der Stelle, die sich in fünf große Abschnitte gliedern lässt. Der erste Abschnitt (VV. 1–3) umfasst den Gottesbefehl und die Vorbereitung Abrahams zur Ausführung dieses Befehls. In diesem ersten Abschnitt wird die Beziehung zwischen Gott und Abraham näher bestimmt (vgl. „Hier bin ich“ in Gen 22,1). In der gesamten Textstelle wird dieses Verhältnis zwischen Gott und Abraham parallel zum Verhältnis zwischen Abraham und seinem Sohn Issak betrachtet. Der zweite Abschnitt (VV. 4–8) beschreibt zunächst knapp den Weg zum Berg (VV. 4–5), wo die Ausführung des göttlichen Auftrags stattfinden soll. Das daran anschließende Gespräch zwischen Abraham und Isaak (VV. 6–8) hat eine retardierende und zentrierende Funktion. Dabei steht nun die Beziehung zwischen Abraham und Isaak im Mittelpunkt (vgl. „Hier bin ich“ in Gen 22,7), wobei die Länge und Ruhe des Gespräches die Intimität zwischen beiden unterstreicht. Der dritte Abschnitt (VV. 9–14), der die Geschehnisse am Gottesberg thematisiert, stellt den Höhepunkt der Erzählung dar. Nach einer dramatischen Zuspitzung in den VV. 9–10 findet sich in den VV. 11–12 der Wendepunkt der Erzählung, der zugleich wieder das Verhältnis zwischen Gott und Abraham thematisiert (vgl. „Hier bin ich“ in Gen 22,11). Die VV. 13–14 berichten abschließend den Vollzug des Brandopfers. Im vierten Abschnitt (VV. 15–18) wird in einer zweiten Gottesrede Abrahams Gottesfurcht (V. 12) als Inhalt der Prüfung Gottes thematisiert. Der fünfte und letzte Abschnitt (V. 19) schließt die Erzählung mit einer Schlussnotiz ab.

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4. Auslegung

4.1 Exposition (V. 1–3)

Die Erzählung beginnt in Gen 22,1 mit einer Überschrift, die Fehldeutungen vermeiden und damit das Verständnis leiten soll: „Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe.“ (Gen 22,1) Die LeserInnen wissen damit im Gegensatz zur Figur Abraham schon, dass es sich im Folgenden um eine Erprobung durch Gott handelt. Sie können den Erkenntnisprozess Abrahams mit Spannung beobachten und sich dabei zugleich auf einer theologischen Ebene vertiefen, indem sie sich mit ihm identifizieren. Eine solche „vorgezogene anfängliche Deuteperspektive“ (Hartenstein, 5.) findet sich auch in Gen 18,1 in der Erzählung vom Besuch der drei Männer bei Abraham in Mamre.

Inhaltlich beginnt Gen 22,1 mit einer Ansprache Gottes. Zeitlich und räumlich bleibt sie unbestimmt, wenngleich deutlich wird, dass sie nach den zuletzt erzählten Ereignissen stattfindet. Gott ruft in seiner Ansprache Abraham beim Namen und dieser antwortet mit „Hier bin ich“ (Gen 22,1 EÜ). Diese Antwort ist typisch für eine namentliche oder mit einem Titel verbundene Ansprache, wobei die antwortende Person meist dem Anredenden untergeordnet ist. „Hier bin ich“ zeigt dabei nicht nur die Anwesenheit der angesprochenen Person, sondern auch ihre Handlungsbereitschaft. Im Kontext von Gen 22,1 zeigt sich damit ein besonderes Verhältnis zwischen Gott und Abraham, das sich durch Verbindlichkeit und Vertrauen auszeichnet, insofern Abraham bereit ist, zu handeln.

Erst nach der Anrede beginnt die Gottesrede in V. 2 inhaltlich. Gott gibt Abraham den Auftrag, seinen Sohn als Brandopfer darzubringen. Der außergewöhnliche Auftrag ist dabei in zweierlei Hinsicht schrecklich und herausfordernd: Zum einen soll Abraham als Vater seinen Sohn opfern, zum anderen hängt an Isaaks Existenz aber auch die göttliche Verheißung (vgl. Gen 17,19) und damit auch die Verlässlichkeit Gottes hinsichtlich des Bundes. Beides wird durch die aufsteigende Reihung der Objekte unterstrichen, die Isaak beschreiben: „deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak“ (Gen 22,2). Mit dem Auftrag, Isaak als Brandopfer darzubringen, scheinen somit die Verheißungen Gottes zunichte gemacht zu sein. Der Bund steht auf dem Spiel. Der Text schildert jedoch keine Reaktion Abrahams auf diesen Auftrag.

Mit V. 3 werden anschließend die Vorbereitungen zur Ausführung des Auftrags genannt. Nachdem Raum und Zeit bisher völlig unbestimmt sind, lässt die Angabe „Frühmorgens“ (Gen 22,3) auf eine nächtliche Erscheinung Gottes schließen. Im Blick auf die Vorbereitungen Abrahams fällt dabei eine ausführliche Schilderung der Tätigkeiten und deren absteigende Reihung auf. Damit könnte einerseits der „innere Zustand“ Abrahams verdeutlicht werden, weil die Reihung und die Ausführlichkeit die Schwere des Auftrags zeigen. Andererseits könnten diese aber auch eine Schilderung der starren Ausführung des Auftrags darstellen. Die Tätigkeiten (aufmachen, den Esel satteln, die beide Knechte nehmen, dann Isaak nehmen, Holz spalten, sich aufmachen und gehen) finden ein retardierendes Moment in der Schilderung des Holzspaltens. Ohne Holz kann Abraham sich nicht auf den Weg machen, ein Brandopfer darzubringen, sodass diese Tätigkeit als „letzte Atempause“ (Hartenstein, 11) erscheint, die aber zugleich ambivalent ist.

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3.2 Zurückbleiben der Knechte (V. 4–5)

Der Weg ausgehend vom Aufbruchsort wird in V. 4 nicht geschildert. Der Vers beschreibt erst, dass Abraham am dritten Tag der Reise seine Augen hebt und den Ort, folglich das Ziel, von Ferne sieht. Das hier angeführte Wort „sehen“ (ra’ah ראה) ist ein Leitwort der Erzählung Gen 22,1–19 (vgl. auch VV. 8.13.14(2x)) und erscheint im Kontext von V. 3 als eine überraschende Wahrnehmung, die zugleich ambivalent ist. Es leitet zugleich einen neuen Abschnitt ein, insofern Abraham nun seine Knechte auffordert, zurückzubleiben und auf ihn zu warten, während er und Isaak am gesehenen Ort Gott anbeten wollen. Abrahams Aussage „dann wollen wir zu euch zurückkehren“ (Gen 22,5), die mit der Aufforderung zum Zurückbleiben der Knechte einhergeht, erscheint im Kontext des Gottesauftrags (vgl. Gen 22,2) mehrdeutig. Einerseits scheint sie der Beruhigung der Knechte zu dienen, andererseits kann sie auch als eine Selbstberuhigung Abrahams verstanden werden, die paradoxerweise auf das Handeln Gottes und damit auf die Verschonung Isaaks hofft, sodass die beiden gemeinsam zurückkehren können.

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4.3 Gespräch zwischen Sohn und Vater (V. 6–8)

V. 6 beschreibt das letzte Stück des Weges, das Abraham und Isaak zu zweit zurücklegen. Sie tragen Holz, Feuer und Messer mit sich, die für das Brandopfer notwendig sind. Ausgehend von diesen Utensilien entwickelt sich ein Gespräch zwischen Vater und Sohn. Im Vergleich zu der vorausgehenden knappen Schilderung des Weges scheint dieses Gespräch der beiden in den VV. 7–8 ausführlich. Die Länge sowie die relative Ruhe des Gespräches zeigen dessen retardierende Funktion: Der Erzählverlauf wird kurz vor dem Wendepunkt noch einmal verlangsamt. Isaak ergreift dabei aktiv die Initiative für das Gespräch und spricht seinen Vater an. Dieser antwortet mit „Hier bin ich“ (Gen 22,7). Wie schon in V. 1 findet sich diese Antwort auf die direkte Ansprache im Kontext eines asymmetrischen Verhältnisses zwischen den Gesprächspartnern, jedoch fällt auf, dass nicht der Höhergestellte den Niedergestellten anspricht, sondern eben der Sohn den Vater. Dadurch wird die asymmetrische Vater-Sohn-Beziehung als innige, tiefe Beziehung eröffnet, weil Abraham hier als Höhergestellter auch eine Präsenz und Handlungsbereitschaft gegenüber seinem Sohn zeigt. Unterstrichen wird dieses Verhältnis durch die Klammer in den VV. 6.8, die jeweils davon berichten, dass beide miteinander gehen (vgl. Gen 22,6.8). Im Gespräch blickt Isaak auf das zukünftige Opfergeschehen und fragt seinen Vater nach dem „Lamm für das Brandopfer“ (Gen 22,7), das die beiden im Vergleich zu den anderen Utensilien nicht mit sich tragen. Abrahams Antwort in V. 8, dass Gott „sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen“ (Gen 22,8 EÜ) werde, erscheint ambivalent. Einerseits gibt er keine klare Antwort auf die Frage nach dem Opfertier, sodass es für die AdressatInnen offenbleibt, ob nicht doch Isaak geopfert wird. Andererseits ist der Hinweis auf das zukünftige Sehen Gottes zentral. Dabei wird erneut das Leitwort „sehen“ (ra’ah ראה) verwendet. Gottes Sehen ist dabei in der Hebräischen Bibel die Weise des göttlichen Rettungshandelns. Denn wer von Gott gesehen wird, der ist gerettet, insofern er nicht mehr aus der Gottesbeziehung herausfallen kann (vgl. bspw. die Rettungszusage an Mose in Ex 3,7–10). Die Aussage Abrahams wirkt daher auch vertrauensvoll und als Ausdruck paradoxer Hoffnung, dass Gott die Ausführung seines Auftrages nicht bis ins Letzte geschehen lässt. Zugleich wird deutlich, dass Abraham sich der Entscheidung und dem Handeln Gottes überlässt. Er erweist sich bereits in V. 8 als gottesfürchtig, sodass an dieser Stelle ein Schlüssel gegeben wird, wie die „Prüfung“ Abrahams (vgl. Gen 22,1) zu verstehen ist: Sie ist eine Prüfung der Gottesfurcht. Die Gottesfurcht bedeutet nicht ‚Angst vor Gott haben‘, sondern ist als „Haltung eines Vertrauens, das aus den kollektiven Erfahrungen Israels in der Geschichte mit seinem Gott erwachsen ist“ (Hartenstein, 21) zu verstehen.

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3.4 Ausführung des Befehls bis zur letzten Konsequenz: Bindung (V. 9–10)

Mit dem Erreichen des nicht näher bekannten Ortes, das in V. 9 beschrieben ist, erfährt die Handlung eine dramatische Zuspitzung. Nach dem vorherigen Dialog ist nun wieder Abraham allein handelndes Subjekt. Wie schon in den VV. 2–3 wird durch die genaue Beschreibung der einzelnen Handlungsschritte die Handlung verlangsamt und ebenso dramatisiert: „Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham dort den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz.“ (Gen 22,9 EÜ). Den Höhepunkt findet die Schilderung in V. 10 darin, dass Abraham das Messer in die Hand nimmt, um seinen Sohn zu opfern.

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3.5 Verhinderung der Ausführung des Befehls: Lösung (V. 11–14)

Mit dem doppelten Ausruf des Engels „Abraham, Abraham!“ wird in V. 11 der Wendepunkt erreicht. Wiederum antwortet Abraham mit „Hier bin ich“ (Gen 22,11). Anschließend folgt in V. 12 eine Aufforderung des göttlichen Boten, Isaak nichts anzutun. Dies wird auch begründet: „Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten.“ (Gen 22,19) Das Nicht-Vorenthalten des Sohnes wird dabei als gültiges Opfer gewertet, insofern die Bereitschaft zur Ausführung des Opfers über dem tatsächlichen Vollzug steht. Damit wird zugleich klar, dass es sich bei der Prüfung Abrahams um eine Prüfung der Gottesfurcht handelt, die hiermit abgeschlossen ist. Dies wird auch durch die namentliche Ansprache und die Antwort Abrahams unterstrichen, die einen Bogen zur göttlichen Anrede in V. 1 schlagen. Die Erzählung von der Prüfung Abrahams erstreckt sich somit zwischen diesen beiden Anreden. Auch das dritte „Hier bin ich“ in V. 7 kann in diesem Zusammenhang verstanden werden. Denn in „Abrahams Beziehung zu Isaak spiegelt sich die vorlaufende Beziehung Gottes zu Abraham wider, insofern der nach so langem Warten durch JHWH geschenkte Sohn derjenige Erweis seiner Verläßlichkeit war, der Abrahams Gehorsam erst ermöglicht.“ (Hartenstein, 8)

Nach der befreienden Unterbrechung durch den Boten YHWHs nimmt Abraham den Widder wahr, der sich im Gestrüpp hinter ihm verfangen hat. Dabei wird in V. 13 erneut das Verb „sehen“ (ra’ah ראה) genutzt, was an dieser Stelle als ein befreiendes Sehen verstanden werden kann. Nachdem Abraham zuvor nur auf die Vorbereitungen für das Brandopfer fokussiert war, sieht der nun den Widder, der anstelle von Isaak als Brandopfer dargebracht wird.

Dem Sehen des Widders wird in V. 14 das Sehen Gottes gegenübergestellt, insofern Abraham dem Ort den Namen „Der HERR sieht“ (Gen 22,14a) gibt. Die Namensgebung verweist zurück auf die Frage Isaaks nach dem Opfertier in V. 8, auf die Abraham antwortet „Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen“ (Gen 22,8 EÜ). Die Namensgebung wird dabei in V. 14b noch um eine erzählerische Notiz zum Namen des Berges ergänzt und dadurch präzisiert.

Im Kontext des befreienden Wendepunktes in V. 11 findet sich eine Änderung der Gottesbezeichnung. Während sich in den VV. 1–10 die Bezeichnung „(der) Gott“ (elohim אֱלֹהִים) mit oder ohne Artikel findet, nutzen die VV. 11.14.15.16 den Gottesnamen YHWH (יְהוָה). Erstmals ist dieser in V. 11 als Charakterisierung des Boten als Boten YHWHs (EÜ: „Engel des HERRN“) zu finden. Die Charakterisierung des Boten verdeutlicht, dass YHWH diese Wende herbeiführt. Mit den beiden unterschiedlichen Gottesbezeichnungen in der Erzählung können zwei Gotteserfahrungen einander gegenübergestellt sein. Während die erste Bezeichnung als „(der) Gott“ eine Distanz zum unerforschlichen, ungeheuren und verborgenen Gott zeigt, so kann mit der Namensbezeichnung YHWH hier eine „Kontrasterfahrung der Verborgenheit des rettenden Gottes“ (Hartenstein, 7) verdeutlicht werden. Hierin zeigt sich das zentrale theologische Thema in Gen 22. 

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3.6 Zweite Gottesrede und Erneuerung der Verheißung (V. 15–18)

Die VV. 15–18 präsentieren eine zweite Rede des YHWH-Boten, in der die göttlichen Verheißungen des Bundes erneuert werden. Grundlage für die Erneuerung in den VV. 16–18 bildet nun die Gottesfurcht Abrahams: „Weil du das getan hast und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken“ (Gen 22,16–17). Mit der Erneuerung des Segens, der Verheißung von großer Nachkommenschaft und einem Land (vgl. Gen 22,17) sowie dem universalen Völkersegen (vgl. Gen 22,17–18) wird auf die vorherigen Verheißungen der Abraham-Erzählungen zurückgegriffen.

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3.7 Abschlussnotiz: Rückkehr Abrahams (V. 19)

Die Erzählung endet mit der Schlussnotiz in V. 19, die von der Rückkehr Abrahams zu dessen Knechten berichtet und mit dem Weg nach Beerscheba, wo sich Abraham niederlässt, abschließt. Im Blick auf diese Abschlussnotiz weist Hartenstein auf eine Leerstelle hin, weil von Isaak keine Rede mehr ist und Abraham scheinbar allein zurückzukehren scheint. Willi-Plein hingegen sieht Isaak und Abraham gemeinsam auf dem Weg. Deutlich wird dies im Verb „miteinander gehen“. Das Verb findet sich bereit in den VV. 6.8 im Kontext des gemeinsamen Weges von Abraham und Isaak. Die Wiederaufnahme des Verbes in V. 19 lässt daher darauf schließen, dass Vater und Sohn gemeinsam unterwegs sind, wenngleich nur Abraham namentlich genannt ist.

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4. Fazit

Die Erzählung von der „Prüfung Abrahams“ in Gen 22,1–19 stellt durch den göttlichen Auftrag in V. 2 sowohl den Glauben Abrahams, auf der Ebene der Erzählfigur, als auch den Glauben Israels bzw. der LeserInnen auf die Probe, weil die Theologie Israels in ihren Grundlagen erschüttert wird. Es stellt sich die Frage, was das für ein Gott ist, der von Abraham die Opferung seines eigenen Sohnes fordert, womit zugleich auch das Vertrauen Abrahams bzw. der LeserInnen in seine göttliche Verheißung bzw. seinen Bund, der an Isaak gebunden ist, infrage gestellt wird. Diese Infragestellung spiegelt zugleich die wechselsenden Wahrnehmungen Gottes in der hebräischen Bibel wider, die sich „zwischen erkennbaren Manifestationen seiner Verheißungs- und Rettungsmacht und [einer] sich dem Erkennen widersetzenden und entziehenden dunklen Seiten Gottes“ (Hartenstein, 20.) bewegen. Auch Abraham schwankt zwischen beiden Erfahrungen, was gerade an Isaak sichtbar wird. Isaak ist einerseits ein Zeichen des Wirkens und der Verlässlichkeit Gottes (vgl. Gen 21,1–7), da er trotz der Unfruchtbarkeit Saras geboren wird und so die Verheißungen Gottes an Abraham überhaupt erst eine Chance zur Einlösung gewinnen, und andererseits soll er Abraham nun durch Gott wieder entzogen werden (Gen 22,1–19). Abraham wird so in seiner Gottesfurcht, also in seinem Vertrauen auf Gott geprüft. Er erweist sich gerade deshalb als gottesfürchtig, weil er auch in der Erfahrung der Fremdheit, der Bedrohung und der Abwesenheit Gottes auf den verborgenen Gott vertraut, sodass „die Erfahrung des verborgenen Gottes zuletzt durch die des rettenden Gottes umgriffen ist.“ (Hartenstein, 22)

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5. Quellen

  • Hartenstein, Friedhelm, Die Verborgenheit des rettenden Gottes. Exegetische und theologische Bemerkungen zu Genesis 22, in: Heinen, Ulrich / Steiger, Johann, Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit (AKG 101), 1–22.
  • Hieke, Thomas, Abraham, in: WiBiLex online (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/12288/) [zuletzt besucht am 06.05.2024].
  • Willi-Plein, Ina, Das Buch Genesis. Kapitel 12–50, Stuttgart 2011 (NSKAT 1/2).

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Erstellt von Katharina Neu, 2024.