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Textkritik

Video I: Textkritik

Video II: Der textkritische Apparat

  1. Der Methodenschritt
  2. Die Textkritische Ausgabe des Hebräischen Alten Testaments
        Übungsaufgaben
  3. Die Textkritische Ausgabe des Griechischen Neuen Testaments
        Übungsaufgaben
  4. Textkritisch entscheiden
        Übungsaufgaben anhand der BHS
        Übungsaufgaben anhand der Göttinger LXX
  5. Relevanz

I. Der Methodenschritt

Die ‚originalen‘ biblischen Texte liegen uns heute nicht mehr vor. Wir besitzen nur spätere Abschriften, die sich jedoch in vielen Punkten unterscheiden (abweichende Lesarten). Die Disziplin der Textkritik versucht, die durch Abschreibvorgänge entstandenen Textfehler und absichtlichen Veränderungen festzustellen und rückgängig zu machen bzw. aus den vorhandenen Handschriften diejenige Textform zu rekonstruieren, die dem Urtext möglichst nahe kommt.

Verschiedene Arten von Textausgaben

Diplomatische Textausgaben

Darstellung einer besonders zuverlässigen Handschrift als Haupttext. Mögliche Textfehler und absichtliche Veränderungen in dieser Handschrift werden im textkritischen Apparat angezeigt.

Beispiel: Biblia Hebraica Stuttgartensia

Eklektische Textausgaben

Auswahl der jeweils besten Lesart aus allen verfügbaren Handschriften, Herstellung eines (künstlichen) Haupttextes bzw. Urtextes. Die textkritischen Entscheidungen sind über den textkritischen Apparat nachvollziehbar.

Beispiel: Nestle-Aland 28

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II. Die Textkritische Ausgabe des Hebräischen Alten Testaments

Die heute weltweit geläufigste wissenschaftliche Ausgabe des Alten Testaments ist die Biblia Hebraica Stuttgartensia, kurz BHS, von 1977. Sie ist die aktuelle Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alten Testament und direkte Nachfolgeausgabe der drei „BHK“ genannten Ausgaben von Rudolf Kittel. Die BHS gibt den Text des Codex Leningradensis (St. Petersburger Handschrift) wieder, der aus dem Jahr 1008‒1009 n. Chr. stammt und die älteste datierte und vollständige Handschrift der Hebräischen Bibel ist. Es gibt noch ältere Handschriften, die aber entweder nicht genau datiert sind oder nicht den gesamten Text enthalten.

In einem textkritischen Apparat bietet die BHS Lesarten anderer Handschriften sowie Korrekturvorschläge für fehlerhafte Stellen im Codex Leningradensis.

Die BHS wird gegenwärtig sukzessive durch die Biblia Hebraica Quinta (BHQ) als fünfte Ausgabe dieser Art ersetzt. Die BHQ erscheint in Einzelbänden und enthält einen ausführlicheren Apparat und englische Kommentare zu den textkritischen Entscheidungen sowie eine allgemeine Einleitung auf Englisch, Deutsch und Spanisch.

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Übungsaufgaben

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© Übungsaufgaben: Methodenkurs 2023

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III. Die Textkritische Ausgabe des Griechischen Neuen Testaments

Glücklicherweise bestand im frühen Christentum offenbar ein großes Interesse, die neutestamentlichen Texte zu kopieren (liturgische Verwendung, Sammlungen, weitere Redaktionen). Zwar hatte das zur Folge, dass sich viele Fehler und unterschiedliche Fassungen ausgeprägt haben, jedoch ergibt sich durch die Vielzahl der Handschriften auch die Möglichkeit der Rekonstruktion des möglichst ursprünglichen Textes. Die kritische Ausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland teilt die griechischen Handschriften folgendermaßen ein:

  1. Papyri
    Einteilung nach dem Beschreibstoff. Bei Papyri handelt es sich um sehr alte, bis ins 2. Jahrhundert zurückreichende Textzeugen mit einem sehr hohen Textwert. Ein Nachteil ist ihr fragmentarischer Charakter, sodass viele strittige Fragen ausschließlich an jüngeren Handschriften entschieden werden müssen.
  2. Majuskeln
    Einteilung nach der Schreibweise. Majuskeln sind in der Regel Pergamenthandschriften, die in Großbuchstaben (= Majuskeln) verfasst sind. Am bekanntesten sind dabei die großen Codices aus dem 4. und 5. Jahrhundert (Sinaiticus, Alexandrinus, Vaticanus, Ephraemi Syri rescriptus und Bezae Cantabrigiensis), die bei der Rekonstruktion des neutestamentlichen Textes von unermesslichem Wert sind.
  3. Minuskeln
    Einteilung nach der Schreibweise. Im 9. Jahrhundert setzen sich die sog. Minuskeln durch, d.h. Texte mit Kleinbuchstaben, Worttrennungen, Satzzeichen und Akzenten. Trotz ihres geringen Alters sind sie sehr bedeutend für die Textrekonstruktion.
  4. Lektionare
    Einteilung nach der Funktion. Der Vollständigkeit halber sei noch auf die Lektionare verwiesen. Nur in seltenen Fällen sind sie von textkritischer Bedeutung. Lektionare sind für den Gottesdienst erstellte Handschriften, die wie auch heute noch den Text in der gottesdienstlichen Leseordnung bieten.

Übungsaufgaben

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In den vorangegangenen Aufgaben haben Sie schon Fragen zu den Textzeugen bearbeitet und von Papyri, Majuskelhandschriften, Minuskelhandschriften und Lektionaren gehört. Im folgenden Memory sollen diese Textzeugen mit dazu passenden Informationen in Verbindung gebracht werden. Immer zwei Bildpaare passen zusammen. Haben Sie ein richtiges Paar gefunden, erscheint dieses hellgrau und bleibt aufgedeckt liegen. Sie können anschließend ein weiteres Paar finden.

© Übungsaufgaben: Methodenkurs 2023

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IV. Textkritisch entscheiden

Wenn ein Text für eine wissenschaftliche Textausgabe neu vorbereitet wird, muss zuerst die Überlieferungslage untersucht werden: Welche Handschriften(-gruppen) oder Fragmente oder andere Textzeugen aus welchen Jahrhunderten sind überliefert, und wo unterscheiden sie sich im Wortlaut? Wo sich der Wortlaut eines Textes in verschiedenen Handschriften unterscheidet, spricht man von verschiedenen Varianten oder Lesarten dieser Stelle. Es gilt, durch Vergleich und Abwägung der überlieferten Lesarten den qualitativ besten Text herauszuarbeiten, der mit der größten Wahrscheinlichkeit einem originalen Ursprungstext am nächsten kommt. Dazu ist eine sprachliche Analyse aller Lesarten notwendig. Außerdem werden die Handschriften möglichst umfassend miteinander verglichen, unter Berücksichtigung ihrer Abhängigkeiten voneinander sowie ihrer grundsätzlichen Qualität. Wenn eine Handschrift beispielsweise überall viele Schreibfehler aufweist, wirken ihre Lesarten per se schon weniger verlässlich.

Für die Abwägung von Lesarten hat die Forschung ein differenziertes Regelwerk (grundsätzliche „Faustregeln“) erarbeitet, mit dessen Hilfe abgewogen werden kann, welche Textvariante bzw. Lesart am ehesten ursprünglich ist:

  1. Die bestbezeugte Lesart ist wahrscheinlich ursprünglich (es geht um die Qualität der jeweiligen Textzeugen, nicht allein um Quantität, d.h. nicht die meistbezeugte Lesart – siehe insbesondere Regeln (2) und (3)).
  2. Die Verwandtschaft/Abhängigkeit der Handschriften voneinander ist zu berücksichtigen. D.h. Handschriften, die offensichtlich von älteren überlieferten Handschriften abgeschrieben wurden, gehören damit derselben „Familie“ an und haben für einzelne Lesarten weniger Gewicht (da die Lesarten schlicht abgeschriebene Fehler sein können).
  3. Zeugengruppen (= Handschriftenfamilien) für verschiedene Lesarten sind gegeneinander abzuwägen. D.h. wenn eine Handschriftenfamilie mit beispielsweise 3 Handschriften insgesamt eindeutig höhere Qualität hat als eine „schlechte“, unsorgfältige Handschriftenfamilie mit 15 Handschriften, so haben die 3 Handschriften im Zweifel für einzelne abweichende Lesarten mehr Gewicht als die 15.
  4. Paralleleinfluss und besonders Einfluss der Septuaginta ist zu berücksichtigen.
  5. Zusammenhängende Lesarten müssen beachtet werden.
  6. Die schwierigere Lesart (lectio difficilior) ist wahrscheinlich ursprünglich, da Abschreiber eine ursprünglich schwierige Textstelle eher vereinfachen würden als eine ursprünglich einfache Textstelle zu verkomplizieren.
  7. Die kürzere Lesart (lectio brevior) ist ursprünglich.
  8. Die bevorzugte Lesart muss in Einklang mit dem Kontext stehen.
  9. Aus der bevorzugten Lesart müssen sich die Varianten erklären lassen.
  10. Konjekturen (= „Vermutungen“, d.h. ganz neue Textvorschläge des modernen Herausgebers für schwierige Stellen im Text) sind möglichst zu vermeiden.

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Übungsaufgaben anhand der BHS

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© Übungsaufgaben: Elisabeth Bäuml

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Übungsaufgaben anhand der Göttinger LXX

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© Übungsaufgaben: Joshua Lerch

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V. Relevanz

Selbst wenn man nicht vorhat, einmal selbst einen antiken Text neu zu edieren, ist es für die wissenschaftliche Arbeit mit diesen Texten unerlässlich, zumindest ein rudimentäres Verständnis für Textkritik zu haben. Nur so kann man beispielsweise Übersetzungsvarianten, Interpretationsspielräume und den Grad der Sicherheit mancher textbasierter wissenschaftlicher Thesen und Argumente nachvollziehen und korrekt beurteilen. In den meisten Fällen kann man sich auf die textkritischen Entscheidungen unserer modernen wissenschaftlichen Texteditionen verlassen. Jedoch können auch in diesen Editionen nicht alle Entscheidungen eindeutig und letztgültig getroffen werden; man kann sich, wenn man mit einem Text wissenschaftlich arbeitet, auch begründet für einen von der Ausgabe abweichenden Text entscheiden – wenn man das Handwerk der Textkritik ein wenig beherrscht.

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